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Desinformation hat ein Geschlecht

Warum werden besonders häufig Frauen in der Politik von Desinformationskampagnen angegriffen und wer steckt dahinter? Wir sprachen mit Rechtswissenschaftlerin Luana Souto über geschlechtsspezifische Desinformation und wie diese Demokratien schadet.

Mit dem Erstarken rechtsautoritärer Kräfte und Bewegungen – sowohl in Europa als auch weltweit – vermehren sich auch die Angriffe gegen Frauen in der Politik mit Deepfakes, Falschinformationen oder Verschwörungserzählungen. Luana Souto ist Rechtswissenschaftlerin und war im April 2024 Fellow am Weizenbaum Institut. Sie forscht zu den Hintergründen geschlechtsspezifischer politischer Gewalt, und welche Auswirkungen diese auf Gleichberechtigung und Frauenrechte hat.
 

Was ist geschlechtsspezifische Desinformation? Wie äußert sie sich konkret?

Luana Souto (LS): Geschlechtsspezifische Desinformation ist ein breites Konzept, das verschiedene Formen annehmen kann, wie z.B. Fake News, Verschwörungstheorien, Online-Angriffe, Memes oder Deepfakes, die produziert werden, um eine Politikerin aufgrund ihres Geschlechts zu diskreditieren. Es ist eine politische Strategie, um die Rechte von Frauen zu untergraben, und sie basiert auf der historischen Annahme, dass Politik „Männersache“ ist. Meine Forschung konzentriert sich darauf, wie geschlechtsspezifische Desinformation genutzt wird, um geschlechterdiskriminierende Politiken zu verbreiten und wie Online-Angriffe gegen Politikerinnen die Demokratie schwächt.
 

Wie weit ist das Problem verbreitet?

LS: Geschlechtsspezifische Desinformation ist Teil eines größeren Komplexes geschlechtsspezifischer politischer Gewalt, die auch psychologische, physische und sexuelle Angriffe sowie patrimoniale und symbolische Strategien umfassen kann, um Frauen in ihren politischen Aktivitäten einzuschränken. Bisher habe ich in erster Linie brasilianische und lateinamerikanische Kontexte analysiert. In diesen Regionen hat in den letzten Jahren die Anzahl der Online-Angriffe gegen Politikerinnen zugenommen. In Brasilien erleben wir das als Backlash gegen einen Zuwachs an Frauen in der Politik.

Vor einigen Jahrzehnten wurden Angriffe gegen Politikerinnen als Problem von Entwicklungsländern betrachtet. In den letzten Jahren wurde jedoch deutlich, dass selbst die etabliertesten Demokratien davon betroffen sein können. Großbritannien war zum Beispiel 2019, im Nachgang des Brexit, mit einer Rücktrittswelle von Politikerinnen infolge von frauenfeindlichen Angriffen konfrontiert – ebenfalls als Gegenschlag zum wachsenden Frauenanteil. Mindestens sechs Frauen traten in diesem Jahr aus dem britischen Parlament zurück.
 

Wie forschst du dazu? Welche Methoden wendest du an?

LS: Ich bin Rechtswissenschaftlerin, daher basiert meine Arbeit auf einem theoretischen Ansatz, der kritische Analysen eines Problems oder eine rechtliche Frage beinhaltet. Es geht dabei darum, diese Phänomene zu verstehen und effektivere rechtliche Lösungen zum Schutz von Frauenrechten zu entwickeln, indem ich potenzielle Lösungen in rechtliche oder regulatorische Sprache „übersetze“.

Ich arbeite auch aus einer feministischen Perspektive, die unser traditionelles Rechtssystem infrage stellt. Dies bedeutet, einen interdisziplinären Dialog mit Disziplinen wie Gender Studies, Soziologie, Politikwissenschaften, manchmal auch Literaturwissenschaften zu fördern, um einen effektiveren rechtlichen Rahmen für den Schutz von Frauenrechten zu entwickeln. Es handelt sich um eine qualitative Arbeit, die auf einer umfassenden Literaturübersicht und rechtsdogmatischen Forschungsmethoden basiert, was bedeutet, dass ich das geltende Recht anhand von geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, hauptsächlich Gesetzen und Gerichtsentscheidungen, untersuche.
 

Was begünstigt oder fördert diese Arten von Online-Angriffen?

LS: Jedes Land bietet laut Literatur sogenannte „begünstigende Umstände“. Manchmal können dies religiöse Überzeugungen, kulturelle Elemente, die eine Gesellschaft prägen, oder ein politisches Ereignis sein, das die Menschen irgendwie spaltet und die Vorstellung von „wir“ und „die anderen“ schafft. Besonders interessant ist, dass Krisenzeiten – eine demokratische Krise oder eine Gesundheitskrise wie die COVID-19-Pandemie – zu politischer Polarisierung führen und als ein starker Auslöser gegen Frauenrechte betrachtet werden können. Frauen werden zum Angriffsziel, weil sie eine progressive Agenda vertreten, die als Bedrohung für anti-demokratische Gruppen angesehen wird. Hass, Angst und Misogynie werden genutzt, um die Mitglieder solcher Gruppen zu vereinen und Politikerinnen anzugreifen.

Insbesondere aufgrund des Aufstiegs rechtsextremer politischer Parteien, kann es heute in jedem Land passieren, dass Politikerinnen vermehrt angegriffen werden.
 

Welche Rolle spielen digitale Medien dabei?

LS: Digitale Medien bieten ein Online- und technologiegestütztes Umfeld, um geschlechtsspezifische Rückschläge und Desinformation zu verbreiten. Anti-demokratische Gruppen profitieren vom Design der Technologie, um vorgeschobene Anti-Gender-Debatten zu führen, die öffentliche Meinung über Kandidat:innen zu manipulieren und neue Anhänger:innen zu gewinnen. Die Vorstellung, auf sozialen Medien vermeintlich anonym zu sein, ermutigt die Menschen, sich offener zu äußern, als sie es im realen Leben tun würden. Der Digitalisierungsprozess unterstützt die Verbreitung von geschlechtsspezifischer Desinformation, auch weil viele Menschen glauben, dass alles aus dem Internet wahr sei. Währenddessen nutzen politische Parteien Bots, Trolle und Fake News, um ihre Gegner:innen im Wahlkampf zu diskreditieren.
 

Gibt es Unterschiede zwischen Ländern, Kulturen oder politischen Systemen?

LS: Ja, diese liegen meist in in diesen „begünstigenden Umständen“ oder den Strategien der Angreifer. In Neuseeland beispielsweise nahm die Anzahl der Angriffe gegen die Premierministerin Jacinda Ardern während der Pandemie zu, aufgrund von Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit Impfungen. In Brasilien könnte unsere patriarchale Geschichte, verbunden mit unseren sozialen Ungleichheiten, die mit dem Kolonialismus zusammenhängen, als ein begünstigender Umstand verstanden werden. Ein bekanntes Beispiel für Fake News über Manuela D’Ávila, die 2018 für das Amt der Vizepräsidentin kandidierte, war die Behauptung, ihr Vermögen habe sich während ihrer Kampagne vergrößert. Dies wurde irgendwie mit Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit der sogenannten „Car Wash Operation“ in Verbindung gebracht – ähnlich wie beim Amtsenthebungsverfahren von Dilma Rousseff. Das Ziel solcher Kampagnen ist es letztlich, Demokratien zu schwächen, wobei geschlechtsspezifische Desinformation nur ein Werkzeug dafür ist.
 

Wie sieht es mit der Anzahl der Angriffe aus?

LS: Entwickelte Länder mit älteren Demokratien melden im Vergleich zu Entwicklungsländern weniger Fälle. Aber während Angriffe in beiden Fällen Politikerinnen im eigenen Land entmutigen, hat ein Angriff auf eine Politikerin in einem „politisch stabileren“ Land auch Auswirkungen auf Frauen in anderen Ländern – zum Beispiel in meinem eigenen. Wenn eine Politikerin dort nicht einmal sicher ist, warum sollte sich eine angehende Politikerin in Brasilien sicher fühlen?
 

In Europa haben kürzlich Frauen aus der radikalen Rechten politische Erfolge gefeiert. Werden auch Politikerinnen, die anti-demokratische, anti-feministische Werte vertreten, aufgrund ihres Geschlechts angegriffen?

LS: Das sind sehr interessante Fälle. Anti-demokratische Politikerinnen repräsentieren meist traditionelle männliche Politiker, indem sie das politische Kapital von ihrem Vater, Ehemann oder einer anderen politischen Figur erben – manchmal fungieren sie als Platzhalter. Und dennoch erleiden sie Angriffe aufgrund ihres Geschlechts. Aber – im Fall von Brasilien – erleben progressive Politikerinnen doppelt so viele Angriffe wie Frauen von Rechts.
 

Was sind die sozialen und politischen Auswirkungen von geschlechtsspezifischer Desinformation und Online-Angriffen? Was bedeutet das für unsere demokratischen Institutionen?

LS: Das Hauptziel von geschlechtsspezifischer Desinformation ist es, Frauen davon abzuhalten, öffentliche oder politische Räume zu besetzen. Die Angriffe gegen sie richten sich an ihr Geschlecht und nicht an ihre beruflichen Qualifikationen. Die politischen Auswirkungen werden eine geringere Diversität in öffentlichen Ämtern, Parlamenten und Regierungen sein. Das sorgt wiederum für einen Mangel an vielfältigen und geschlechtssensiblen Interessen und Forderungen, sowohl in unseren Regierungen, in Gesetzgebungen als auch in staatlichen Maßnahmen. Infolgedessen werden unsere demokratischen Institutionen weniger demokratisch, weil ein wesentliches Element in der Demokratie die Gleichheit ist. Wie können wir gleich sein, wenn nur die Interessen eines Teils der Gesellschaft berücksichtigt werden?
 

Was kann und sollte dagegen unternommen werden, wer trägt im Kampf gegen dieses Problem eine besondere Verantwortung?

LS: Meiner Meinung nach ist ein ganzheitlicher Ansatz unerlässlich, um Probleme im Zusammenhang mit Geschlechterfragen zu lösen. Natürlich können wir einige rechtliche oder staatliche Maßnahmen ergreifen. Die UNO und die EU waren hier durch den UN-Bericht zu Meinungsfreiheit und geschlechtsspezifischen Dimensionen von Desinformation sowie dem Verhaltenskodex zur Desinformation der Europäischen Kommission aktiv. Sie werden eine entscheidende Rolle spielen, um das Problem rechtlich anzugehen und vielleicht geschlechtsspezifische Desinformation zu kriminalisieren.

Als Rechtswissenschaftlerin und Kritikerin unserer Rechtsordnung glaube ich jedoch, dass diese Maßnahmen langfristig nicht ausreichen werden. In meiner Doktorarbeit habe ich hervorgehoben, wie soziale Maßnahmen bei Geschlechterfragen von entscheidender Bedeutung sind, insbesondere durch das Bildungssystem. Unsere Kinder übernehmen bereits in sehr jungen Jahren binäre Geschlechterstereotype und eine Vorstellung davon, was „Männersache“ ist. Dies beeinflusst die Stimmung in der Gesellschaft darüber, wer für öffentliche Ämter kandidieren sollte und wer nicht. Daher glaube ich an einen nicht-binären Bildungslehrplan als Strategie, um jahrhundertelange misogyne Überzeugungen darüber, welches Geschlecht politische Räume besetzen sollte zu überwinden.

 

Vielen Dank für das Interview.

 

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Dr. Luana Mathias Souto hat an der Pontifícia Universidade Católica de Minas Gerais - PUC Minas (Brasilien) in Rechtswissenschaften promoviert. Sie ist eine theoretische Forscherin mit Schwerpunkt auf Gender Studies und Recht. Im April 2024 war sie  Fellow in der Forschungsgruppe „Plattform-Algorithmen und digitale Propaganda.“

Das Gespräch führte Leonie Dorn

 


 

Dieses Interview ist Teil des Fokus „Zusammenhalt in der Vernetzen Gesellschaft.“ Wissenschaftler:innen des Weizenbaum-Institutes geben in Interviews, Berichten und Dossiers Einblicke in ihre Forschung zu den verschiedensten Aspekten von digitaler Demokratie und digitaler Teilhabe. Mehr erfahren