„Es ist denkbar, dass wir Mitglied digitaler Gemeinschaften sind, von denen wir nichts wissen“
Digitale Gemeinschaften sind bisher noch weitgehend unerforscht und der Begriff ist für viele umstritten. Im Interview mit dem Soziologen Robert Seyfert sprachen wir darüber, ob echte Gemeinschaften überhaupt digital entstehen können, und was sie mit Social Media Algorithmen zu tun haben.
Für Soziolog*innen ist das Wesen von digitalen Gemeinschaften bisher eher ein Randthema gewesen, im Schatten von Untersuchungen zur digitalen Gesellschaft. Dieser Forschungslücke hat sich im Juli die internationale Konferenz 'Digital communities – social proximity from a spatial distance' gewidmet. Weizenbaum Forscher Daniel Schneiß war vor Ort und sprach mit Prof. Dr. Robert Seyfert, Mitorganisator der Konferenz, von der Christian-Albrechts-Universität Kiel.
Daniel Schneiß: Im Kontext einer internationalen Konferenz an der Universität Kiel habt ihr euch näher mit dem Begriff der digitalen Gemeinschaft auseinandergesetzt. Wie kann dieser Begriff in der Soziologie verstanden werden?
Robert Seyfert: Zunächst fällt einmal auf, dass der Begriff der digitalen Gemeinschaft in der soziologischen Forschung bislang eher unterrepräsentiert ist.
Der Begriff wird außerhalb des akademischen Diskurses häufiger verwendet, etwa im Zusammenhang mit der Schaffung und dem Management von Online-Communities. Hierbei geht es oft um praktische Aspekte der Organisation und Verwaltung dieser Communities.
Im wissenschaftlichen Diskurs wird dagegen der Fokus stärker auf die digitale Gesellschaft gelegt, die umfassender analysiert und in vielen Studien theoretisch fundiert ist. Zur digitalen Gemeinschaft hingegen fehlt es bislang an systematischen Untersuchungen und einer tiefgehenden theoretischen Verankerung des Begriffs in der soziologischen Forschung. Diese Konferenz hat sich daher bewusst dem Thema der digitalen Gemeinschaft gewidmet, um diese Lücke zu adressieren und neue Impulse für die theoretische und empirische Forschung in diesem Bereich zu setzen.
Schneiß: Die Gegenüberstellung von Konzepten der Gemeinschaft und Gesellschaft hat eine lange Tradition in der soziologischen Begriffsbildung, aber wie kann sich nun das Verständnis von Gemeinschaft verändern, wenn nun der Begriff des Digitalen hinzukommt? Was charakterisiert digitale Gemeinschaften?
Seyfert: Zur Frage, ob digitale Gemeinschaften existieren können, gibt es auch nach der Konferenz keine Einigkeit. Die Beantwortung der Frage hängt maßgeblich davon ab, wie der Begriff „Gemeinschaft“ definiert wird. Einige Forscher*innen argumentieren, dass echte Gemeinschaften nicht digital sein können, da sie körperliche Anwesenheit – also eine physische Präsenz – erfordern und somit weder in räumlicher noch in zeitlicher Distanz bestehen können. Andreas Hepp hat in seinem Vortrag dargelegt, dass Gemeinschaftsbildung ein Prozess der Sinnkonstruktion zwischen Menschen ist. Man könne daher zwar von einer Mediatisierung von Gemeinschaften sprechen, jedoch nicht von digitalen Gemeinschaften. Diese Argumentation basiert jedoch auf einem sehr engen Verständnis von Sinnkonstruktion und Gemeinschaftsbildung. Aus mediensoziologischer Sicht könnte man aber auch argumentieren, dass Sinnkonstruktionen immer auch digital ko-produziert werden. Dies macht die Idee der digitalen Gemeinschaftsbildung plausibler. Ähnliches gilt für das Kriterium der Ko-Präsenz menschlicher Individuen.
Wenn man die Sinnkonstruktion nicht nur auf menschliche und nicht-menschliche Akteure verteilt, sondern auch die traditionelle Vorstellung von Individualität hinterfragt und diese als etwas Heterogenes und Multiples begreift, entstehen neue Konzepte digitaler Gemeinschaften, die nicht zwangsläufig auf physischer Präsenz basieren. In diesem Kontext könnte das Konzept der digitalen Gemeinschaft wesentlich davon abhängen, ob wir von Individuen oder von sogenannten „Dividuen“ ausgehen.
Durch die Betrachtung der Individualität als Dividuum, das sich in verschiedene Teile oder Fragmente aufteilen lässt, eröffnet sich die Möglichkeit, digitale Gemeinschaften als Netzwerke von flexiblen und dynamischen Identitäten zu verstehen. Diese Identitäten sind nicht starr oder festgelegt, sondern können sich je nach Kontext und Interaktion unterschiedlich manifestieren. Dies führt zu einer neuen Art der Gemeinschaftsbildung, die über die traditionelle Vorstellung von physischen, geographisch verorteten Gemeinschaften hinausgeht und den besonderen Bedingungen der digitalen Welt gerecht wird.
Einfacher ist die Sache, wenn wir Gemeinschaftlichkeit durch Formen affektiver Vertrautheit und Zugehörigkeit, durch Gefühlsregeln und deren performativen Charakter definieren – also durch ihre Hervorbringung in der Interaktion. In diesem Sinne kann z.B. die Mitgliedschaft in einer digitalen Gemeinschaft, wie zum Beispiel bei Wikipedia (einem digitalen Gemeingut in Form von digitalen Commons), durchaus als gemeinschaftlich verstanden werden, einschließlich ihrer weniger romantischen Aspekte wie Sanktionen und Verhaltensnormierung – Aspekte, die auch für Tönnies zentrale Kriterien der Gemeinschaft darstellten.
Schneiß: In welchem Verhältnis steht der Begriff der digitalen Gemeinschaft zu aktuellen Diskussionen über die Polarisierung von Gesellschaften, die ja oft auch auf die Rolle von sozialen Medien unter anderem verweist? Haben digitale Gemeinschaften sozusagen auch eine dunkle Seite?
Seyfert: Gemeinschaften haben auch in ihrer nicht-digitalen Form eine dunkle Seite, wie es bereits von frühen Autoren wie Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner beschrieben wurde. Sie sanktionieren Verhalten, schränken Freiheitsgrade ein und neigen dazu, hierarchisch und totalitär zu werden. Auch Derrida hat darauf hingewiesen, dass Gemeinschaften die Illusion einer natürlichen Zugehörigkeit erzeugen und potenziell Formen der Gewalt hervorbringen können, was oft mit einer Form der Abgrenzung verbunden ist. Allerdings spricht die empirische Vielfalt digitaler Gemeinschaften eher gegen die These einer umfassenden Polarisierung der Gesellschaft, da hier eine Vielzahl unterschiedlicher Stimmen vertreten ist. Man könnte jedoch argumentieren, dass soziale Medien die Nutzer*innen polarisieren.
Dies zeigt sich besonders deutlich in jüngster Zeit, insbesondere bei rechtsextremen Gruppen. Soziale Medienplattformen generieren Aufmerksamkeit und mobilisieren Meinungen. Dabei spielt der Wunsch der Nutzer*innen nach Gemeinschaft ebenso eine Rolle wie der affektive Reiz, den diese Plattformen ausüben. Enttäuschungen sind ebenfalls zu beobachten, wenn Gemeinschaften nicht zustande kommen oder zerfallen.
Ein anschauliches Beispiel war in den letzten Jahren der Wandel von X (ehemals Twitter). Nach der Übernahme durch Elon Musk wurden die Moderationsregeln geändert oder ganz abgeschafft. Diese Änderungen führten dazu, dass bestimmte Verhaltensweisen, die zuvor als unangemessen galten und daher sanktioniert wurden, nun erlaubt oder toleriert wurden. Einige Nutzer*innen kehrten nun zurück, weil die neuen Regeln auf X Verhaltensweisen ermöglichten, die vorher nicht toleriert wurden. Das wiederum veranlasste viele Nutzer*innen, die Plattform zu verlassen, weil sie mit diesen Änderungen nicht einverstanden waren oder sich unwohl fühlten. Einige kehrten jedoch zurück, weil sie das Gemeinschaftsgefühl auf anderen Plattformen vermissten.
Schneiß: Während der Begriff der digitalen Gesellschaft stärker auf eine Allgemeinheit abzielt – eine neue Form des Zusammenlebens, der Ordnungsbildung etc. – ist der Begriff der digitalen Gemeinschaften doch stärker auf partikulare Phänomene fokussiert. Welche unterschiedlichen Phänomene, Entwicklungen, Aspekte können darunter gefasst werden?
Seyfert: Digitale Gemeinschaften zeichnen sich durch eine Vielzahl von Aspekten aus, die ihre Entstehung und Dynamik prägen. Ein zentraler Aspekt ist der affektive Reiz, den digitale Plattformen auf die Nutzer*innen ausüben. Dieser Reiz verstärkt den Wunsch nach Zugehörigkeit und das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein, was häufig zu einer emotionalen Bindung an die jeweilige Gemeinschaft führt. Innerhalb dieser Gemeinschaften entwickeln sich spezifische Gefühls- und Verhaltensregeln, die das Verhalten der Mitglieder steuern und teilweise auch sanktionieren – ähnlich wie in traditionellen Gemeinschaften. Diese Regeln sind oft nicht explizit formuliert, sondern manifestieren sich in der Interaktion und den unausgesprochenen Erwartungen, die innerhalb der Gemeinschaft entstehen.
Mit diesen Dynamiken sind ganz unterschiedliche Entwicklungen verbunden. Zum einen handelt es sich um den Wunsch, in Gemeinschaft zu sein – ein Verlangen, das Ferdinand Tönnies bereits für prä-digitale Gemeinschaften als Wesenswillen bezeichnet hat. Dieser Wesenswillen steht im Gegensatz zum eher instrumentellen Zusammenleben, das wir in der ‚kalten‘ Gesellschaft erleben. Digitale Gemeinschaften verkörpern somit das ‚warme‘ und ‚häusliche‘ Gegenstück zur nüchternen, zweckorientierten Gesellschaft. Allerdings können mit diesem Wunsch nach Gemeinschaft auch dunklere, totalitärere Aspekte verbunden sein. Der nicht-instrumentelle Charakter solcher Gemeinschaften kann zudem relativ leicht ausgebeutet werden, indem man diese nicht-wirtschaftlichen Formen des Zusammenlebens kommerzialisiert – ein Phänomen, das Silke van Dyk als Community-Kapitalismus bezeichnet hat.
Ein weiterer Aspekt, der in digitalen Gemeinschaften relevant zu sein scheint, ist die Bedeutung der zeitlichen Investition. Anders als in physischen Gemeinschaften, wo die Ko-Präsenz, also das gleichzeitige körperliche Beisammensein, eine zentrale Rolle spielt, scheint in digitalen Gemeinschaften die Investition von Zeit ein stärkeres Gewicht zu erhalten. In diesen Gemeinschaften wird Zugehörigkeit oft durch kontinuierliche Interaktion, das regelmäßige Teilen von Inhalten oder die aktive Teilnahme an Diskussionen und gemeinsamen Projekten gestärkt. Diese zeitliche Investition schafft eine Art von Präsenz, die nicht an physische Anwesenheit gebunden ist, sondern durch beständige virtuelle Interaktionen entsteht. Somit wird die Zeit, die ein Mitglied einer digitalen Gemeinschaft widmet, zu einem entscheidenden Faktor für das Gefühl der Zugehörigkeit und der Stabilität der Gemeinschaft.
Schneiß: Wo liegen die Herausforderungen in der Erforschung Digital Communities? Wie geht es weiter und welche offenen Fragen bleiben?
Seyfert: Die größten Herausforderungen bestehen wahrscheinlich in der Neukonzeptualisierung zentraler Begriffe wie des Individuums bzw. Dividuums, um zu verstehen, wie Gemeinschaftlichkeit in heterogenen Zusammenhängen gedacht werden kann. Es ist offensichtlich, dass wir niemals nur Mitglied einer einzigen digitalen Gemeinschaft sind, sondern gleichzeitig Teil mehrerer. Die Forschung zur digitalen Subjektivität kann hierzu wertvolle Beiträge leisten, da sie bereits gezeigt hat, dass wir mehrere digitale Subjektivitäten besitzen – von denen einige vielleicht gar nicht bewusst von uns hervorgebracht wurden, wie z.B. personalisierte Chatbots, AI-Doubles oder digitale Zwillinge.
Es ist sogar denkbar, dass wir Mitglied digitaler Gemeinschaften sind, von deren Existenz wir nichts wissen, da sie uns weder bewusst noch sinnhaft von uns gestaltet wurden. Die Erzeugung sogenannter algorithmischer Gruppen – also Korrelationsgruppen, die durch maschinelles Lernen identifiziert werden – könnte Vergemeinschaftungseffekte hervorrufen, die uns nicht nur als Nutzer*innen, sondern auch als Soziolog*innen völlig intransparent bleiben. Gemeinschaftlichkeit manifestiert sich dann nicht nur darin, dass Empfehlungsalgorithmen ‚traditionelles‘ Wissen für uns bereitstellen, sondern auch darin, dass wir affektiv (oft vor- oder nicht-reflexiv) in eine digitale Gemeinschaft hineingezogen werden, dass Verhaltensregeln entstehen und dass unser Verhalten, ähnlich wie in herkömmlichen Gemeinschaften, sanktioniert werden könnte.
Vielen Dank für das Gespräch!
Robert Seyfert ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Soziologische Theorien am Institut für Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Seine Forschungsinteressen liegen neben der Soziologischen Theorie der Kultursoziologie, auf der Soziologie der Emotionen und Affekte, sowie der Soziologie des Digitalen und Algorithmuskulturen.
Daniel Schneiß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Forschungsgruppe „Arbeiten mit Künstlicher Intelligenz“ am Weizenbaum-Institut sowie im DFG-Projekt „Das Regieren der Algorithmen“ an der Universität Kiel.
Dieses Interview ist Teil des Fokus „Zusammenhalt in der vernetzen Gesellschaft.“ Wissenschaftler*innen des Weizenbaum-Institutes geben in Interviews, Berichten und Dossiers Einblicke in ihre Forschung zu den verschiedensten Aspekten von digitaler Demokratie und digitaler Teilhabe. Mehr erfahren