Digitale Gemeinschaft: algorithmische Klassifikationen, digitale Affizierung und kapitalistische Aneignung
Wie bilden sich Gemeinschaften im Digitalen, was zeichnet sie aus und worin liegen ihre dunklen Seiten? Weizenbaum Forscher Daniel Schneiß berichtet von der internationalen Konferenz 'Digital communities – social proximity from a spatial distance', die Mitte Juli in Kiel stattfand.
Entgegen einer breiteren medialen Darstellung wird in der soziologischen Forschung die These einer umfassenden und zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung zumeist widersprochen. Die Vielfalt unterschiedlicher Positionen, möglicher Bühnen und Kommunikationsräume hat sich demnach in den letzten Jahren eher erweitert als polarisiert. Soziale Konflikte und Spannungen werden somit stärker sichtbar, aber nicht notwendigerweise zugespitzter oder verengter geführt.[1] Im Bereich des oft unbestimmt und ungenau benannten „digitalen Raumes“ sind dabei jedoch partikulare Polarisierungstendenzen sichtbar, in denen die digitalen Infrastrukturen in Form von bspw. Social Media Plattformen oder Chatgruppen eine steigende Relevanz zukommt. In den sozialen Netzwerken wird dabei zumeist auf die zunehmende Mobilisierung rechtsextremer Gruppen verwiesen. Auf ökonomischer Ebene zeigen sich hier zusätzlich klare Monopolisierungstendenzen der großen Plattformunternehmen, die in vielerlei Hinsicht selbst regulatorische Entitäten darstellen, da sie direkten Einfluss auf Vergemeinschaftungsprozesse und soziale Normierungen besitzen.[2]
In der breiteren Diskussion wird hier somit vermehrt von Polarisierung innerhalb einer zunehmenden digitalen oder vernetzten Gesellschaft gesprochen. Unstrittig ist dabei nicht nur die Zuschreibung des digitalen, sondern eben auch, dass von Gesellschaften gesprochen wird.[3] Denn aus dem Arsenal der soziologischen Grundbegriffe wird dabei der ursprüngliche Gegenbegriff zu Gesellschaft – der Begriff der Gemeinschaft – weitaus seltener verwendet. Diese Feststellung diente gewissermaßen als Ausgangspunkt für eine internationale Konferenz an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, die im Juli 2024 zusammen mit der Ferdinand Tönnies-Gesellschaft in Kiel organisiert wurde.[4] Unter dem Titel „Digital Communities – Social proximity from a spatial distance“ wurde, angelehnt an Ferdinand Tönnies‘ zentrale Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft,[5] eine Spurensuche und Evaluation des Begriffs der digitalen Gemeinschaft vorgenommen.
Diese Begriffsarbeit erwies sich dabei als spannend, da sie sich zum einen als anschlussfähig an unterschiedliche heterogene und interdisziplinäre Forschungsarbeiten erwies. Wie in unterschiedlichen Vorträgen ausgeführt, beziehen sich Forschungen zur veränderten Rolle digitaler Kommunikation, räumlicher Transformationen von Nachbarschaften oder die Einbindung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten auf digitalen Plattformen durchaus auch auf einen Begriff der Gemeinschaft, der sich allerdings eher in partikularen Gruppenbildungen wiederfindet. Zum anderen provoziert eine Diskussion um die Frage nach der digitalen Gemeinschaft auch eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem tiefergreifenden Verständnis gesellschaftlicher Transformationen durch digitale Technologien. Dies ließ sich dann auch in der Dreiteilung der Konferenz wiederfinden, die sich zunächst in Anschluss und Erweiterung von Tönnies mit Gemeinschaften als neue Formen des sozialen Zusammenlebens vermittelt durch digitale Technologien beschäftigte (a), darauf aufbauend auf die veränderte Rolle von Affekten und Emotionen in sozialen Interaktionen verwies (b) und abschließend die neue Rolle digitaler Commons und ihrer möglichen Instrumentalisierung diskutierte (c).
Drei spannende Aspekte sollen hier kurz hervorgehoben werden.
Zunächst fällt schnell auf, dass digitale Gemeinschaften, im Vergleich zu nicht-digitalen Gemeinschaften, sich insbesondere durch die Abwesenheit körperlicher Präsenz auszeichnen und so neue Formen der Ko-Existenz von Vergemeinschaftung ermöglichen. Bei Tönnies sind Gemeinschaften immer auch von den räumlichen Bedingungen ihrer Hervorbringung geprägt. Übertragen in digitale Arrangements lässt sich dann entgegen der Betonung einer räumlich-körperlichen Präsenz fragen, ob es nicht zu einer Aufwertung der zeitlichen Ebene sozialer Praxis kommt. Ein Gefühl der Teilhabe oder Anerkennung einer Gruppenzugehörigkeit zu einer digitalen Gemeinschaft ist dann ggf. weniger durch konventionelle Normierungen geprägt (Familie, Konfession o.Ä.), sondern eben durch das zeitliche Investment, das in eine Gemeinschaft hineinfließt. So wäre es spannend, nach der Permanenz und den Erwartungen an die Dauerhaftigkeit zu fragen, die Gruppenmitglieder bei der Nutzung digitaler Medien für die soziale Kommunikation haben. Aus dieser Perspektive könnten die digitalen Medien – überspitzt formuliert – sogar eine Gegentendenz zum oft diskutierten Niedergang von Gemeinschaften darstellen, da sie durchaus eine längere Dauerhaftigkeit und einfachere Formen der Beteiligung ermöglichen können.
Ein zweiter Punkt bezieht sich auf die Rolle von Affekten in digitalen Gemeinschaften. Digitale Gemeinschaften spiegeln oft bereits bestehende analoge Gruppen wider (diskutierte Beispiele waren hier die Familie, religiöse Gruppen oder Nachbarschaften). Gleichzeitig entstehen allerdings auch Formen algorithmischer Klassifizierungen, die zu neuen Formen der Gemeinschaftsbildungsdynamik führen. Timelines, Feeds oder Chat-Gruppen werden algorithmisch konstituiert – obwohl sie oft stark kuratiert sind – in einer Weise, die sich der Wahrnehmung der Teilnehmer:innen meist entzieht. So entstehen im extremsten Fall digitale Gemeinschaften ohne ein direkt ersichtliches gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl. Die Diskussion über Gemeinschaft und digitale Affekte entwickelt hier einen wertvollen Beitrag, indem sie die Entwicklung neuer Formen affektiver Identifikationen hervorhebt, die durch ihre digitale Vermittlung entstehen. So lassen sich bspw. so genannte „Plattform-Intimitäten“ nachzeichnen, die durch die plattformeigenen semiotischen Strukturen und Affekträume realisiert werden.[6] So bilden sich plattformimmanente Realitäten durch gemeinsame Verbindungen und emotionale Bindungen an geteilte kollektive Imaginationen (z.B. das Meme in der quasi niedrigschwelligsten Form). In der Diskussion wurde hierbei hervorgehoben, dass es sich dabei eher um eine Bindung an digitale Gemeinschaften handelt als um einen aktiven Drang zur Gemeinschaftsbildung. Die Affekte schaffen eine Bindung, aber keine konkrete Gemeinschaft.[7] Dennoch ermöglichen sie Identifikationsprozesse, die durchaus Gefühle der Zugehörigkeit und somit auch eine produktive Dimension der Gemeinschaftsbildung entwickeln. Natürlich können dann, neben positiven affektiven Reaktionen, auch Hass und Wut zu Zugehörigkeit und Anpassung in Form von negativer Identifikation führen.
Dass Gemeinschaften entgegen ihrer häufigen Romantisierung eben auch eine „dunkle Seite“ haben, da sie auch Räume der Exklusion, Gewalt, sozialer Normierung und Sanktion darstellen, findet sich ebenfalls bereits bei Tönnies thematisiert. Wie in der Konferenz jedoch mehrfach diskutiert, wandelt sich durchaus die Formen der sozialen Ordnungsbildung als auch ihrer möglichen Sanktionen. Gerade auf Ebene der digitalen Plattformen lässt sich von einer Form der algorithmischen Gouvernmentalität[8] sprechen, in der die Subjekte nicht mehr direkt als Subjekte adressiert werden, sondern die Kontextbedingungen der Entscheidungsfindung der Subjekte beeinflusst werden. Darüber hinaus können digitale Gemeinschaften unter dem Aspekt des Community-Kapitalismus, also der Instrumentalisierung von Gemeinschaften, analysiert werden.[9] Als Folge einer Politik der Deregulierung und Privatisierung entstehen neue Potentiale zur Aneignung und Ausbeutung von gemeinschaftlichen Versorgungsarrangements der Zivilgesellschaft, die konventionell in den Bereich der öffentlichen Fürsorge fielen. Durch den Aufstieg der digitalen Plattformen spitzt sich diese Entwicklung weiter zu, da digitale Plattformen in besonderer Weise die Aneignung der „lebendigen Arbeit“ ihrer Nutzer:innen für die eigenen wirtschaftlichen Gewinne ermöglichen (Beispiele sind nebenan.de, Tripadvisor, aber auch Amazon). Diese Perspektive wirft ein anderes Licht auf die Schattenseiten von Gemeinschaften, die das Verständnis von Gemeinschaft als ein Gefühl[10] instrumentalisieren, welches grundsätzlich als positiv angesehen wird und durch das Gruppen und Beziehungen gebildet werden und Interaktionen stattfinden. Dies birgt die Gefahr, sich zu einer Politik der Gemeinschaft zu entwickeln,[11] durch die Gemeinschaften durch statistische Technologien berechenbar gemacht und zu Objekten ihrer Ausbeutung werden.
Grundsätzlich zeigten die Präsentationen und Diskussionen der Konferenz hervorragend das wenig beachtete Potential in der Nutzung des Begriffs der Gemeinschaft für sozialwissenschaftliche Studien des Digitalen – unabhängig ihrer disziplinären Verortung. Hierbei sind interessanterweise noch immer historische Ideen und Vorstellungen von Gemeinschaften als Werte- und Resonanzgemeinschaften präsent und bieten auch einen stabilisierenden Imaginationspunkt. Aufgrund der Vielfältigkeit von verschiedenen Formen und Arten von digitalen Gemeinschaften ist zu hoffen, dass hier nun ein erstes konzeptionelles „Mapping“ stattgefunden hat, welches auch weitere Arbeiten inspiriert.
[1] Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp, 2023.
[2] Carolina Are, ‘An autoethnography of automated powerlessness: lacking platform affordances in Instagram and TikTok account deletions’, in: Media, Culture & Society, 2023, 45(4), S.822-840.
[3] Vgl. zum Beispiel: Dirk Baecker, 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt. Berlin: Merve, 2018; Armin Nassehi, Muster: Theorie der digitalen Gesellschaft. Bonn: C.H. Beck Verlag, 2019; Ori Schwarz, Sociological Theory for Digital Society. The Codes that Bind Us Together. Cambridge: Polity, 2021.
[4] Hier finden sich weitere Informationen zu der Konferenz: https://www.uni-kiel.de/fileadmin/user_upload/veranstaltungen/tagungen-und-kongresse/2024-digi-comm-prog.pdf; Zusätzliche Unterstützung erhielt die Konferenz von der DGS Sektion Soziologische Theorien sowie der Förderung „Frauen fürs Podium“ der philosophischen Fakultät Kiel.
[5] Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft: Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. Leibzig: Fues Verlag, 1887.
[6] Vgl. bspw. Bezug Sandra Robinson und Emily Hiltz, ‘Platformed misogyny in Depp v Heard: #justiceforjohnny and networked defamation’, in: Feminist Media Studies, 2024, 24(1), 162-165; Katrin Döveling und Robert Seyfert, „Digitale Affektkulturen. Soziale Medien als affektive Intensitätsmedien“, in: Gesine Lenore Schiewer, Jacek Szczepaniak, Janusz Pociask (Hg.). Emotionen – Medien – Diskurse. Interdisziplinäre Zugänge zur Emotionsforschung, Wiesbaden: Harrassowitz-Verlag, 2023, S. 23-36.
[7] Ein Meme kann so von Gemeinschaften mobilisiert werden, wie es bspw. in den Krypto-Communities häufig passiert.
[8] Antoniete Rouvroy, ‘Algorithmic Governmentality and the Death of Politics’, in: Green European Journal, 2020, March 27, https://www.greeneuropeanjournal.eu/algorithmic-governmentality-and-the-death-of-politics/
[9] Silke van Dyk und Tine Haubner, Community-Kapitalismus. Hamburg: Hamburger Edition, 2021.
[10] Zygmunt Bauman, Gemeinschaften. Frankfurt a.M.: 2001.
[11] Nikolas Rose, „Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens“, in: Ulrich Bröckling, Susanne Krasman, Thomas Lemke (Hg.), Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S.72-109.
Dieser Bericht ist Teil des Fokus „Zusammenhalt in der Vernetzen Gesellschaft.“ Wissenschaftler:innen des Weizenbaum-Institutes geben in Interviews, Berichten und Dossiers Einblicke in ihre Forschung zu den verschiedensten Aspekten von digitaler Demokratie und digitaler Teilhabe. Mehr erfahren