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Simon Schrör

„Der Fokus im Urheberrecht liegt heute stark auf den nicht professionellen Urheber:innen“

Ein Gespräch mit Forschungsgruppenleiter Simon Schrör

Ende des Jahres 2020 erschien als Open-Access-Publikation der Sammelband zur letzten Konferenz, die vor dem Corona-Lockdown am Weizenbaum-Institut stattfinden konnte: „Tipping Points. Interdisziplinäre Zugänge zu neuen Fragen des Urheberrechts“. Der Band versammelt 13 Forschungsbeiträge von Autor:innen aus Rechts-, Musik-, Literatur- und Geschichtswissenschaften sowie der Soziologie. Simon Schrör, Leiter der Forschungsgruppe „Verlagerung in der Normsetzung“ erzählt im Gespräch, warum das Urheberrecht in so vielen Disziplinen relevant ist und wie man Interdisziplinarität zum Erfolg führen kann.


 

Simon Schrör

Das Urheberrecht bringt heute Tausende von Menschen auf die Straße und beschäftigt in jahrelangen Rechtsstreitigkeiten die Gerichte. Was hat dazu beigetragen, dass dieses Rechtsgebiet heute solches Konfliktpotenzial für so viele Menschen hat?

Schon mit der Geburtsstunde des Urheberrechts entstand ein Spannungsverhältnis zwischen Urheber:innen, Verlagen und Konsument:innen. Mit der Digitalisierung in den letzten Jahren ist das Urheberrecht von einem hintergründigen Spezialthema, mit dem sich nur wenige Professionelle befassen mussten, zu einem Rechtsgebiet geworden, das plötzlich viele Menschen etwas angeht. Betroffen sind alle, die im Internet – nicht unbedingt professionell, sondern beispielsweise schon durch ihre Interaktionen auf Social Media – Musik, Videos, Bilder oder Texte veröffentlichen und damit eine so große Öffentlichkeit erreichen, dass es urherberrechtsrelevant wird. Auch Konsument:innen spüren den Einfluss des Urheberrechts, wenn plötzlich Inhalte, die es vorher online gab, nicht mehr verfügbar sind, wie während des langjährigen Streits zwischen der Gema und YouTube, der inzwischen beigelegt ist.

Wie würden Sie den gegenwärtigen Stand des Urheberrechts zusammenfassen? Welche Relevanz hat das Thema für die vernetzte Gesellschaft?

Die große Urheberrechtsreform, die 2019 in der EU beschlossen wurde, wird gerade in den Mitgliedstaaten, auch in Deutschland, implementiert. Damit tritt eine Änderung im faktischen Recht ein. Einige Beiträge unseres Sammelbands reflektieren darüber hinaus eine ganze Reihe relevanter Gerichtsentscheidungen, die das Urheberrecht verändert haben. Oft betrifft das Spezialthemen, wo große Rechtsunsicherheit herrscht, beispielsweise das Sampling, also das Nutzen von kleinen und kleinsten Werkteilen in der Musik. Das führt dann teilweise zu jahrzehntelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen, wie im Fall „Metall auf Metall“ zwischen der Gruppe Kraftwerk und dem Musikproduzenten Moses Pelham. Man kann allerdings sagen, dass sich der Fokus im Urheberrecht stark auf die nicht professionellen Urheber:innen richtet, den sogenannten Prosumern, die gleichzeitig konsumieren und produzieren.

Schon im Call for Papers zur Konferenz haben Sie Teilnahmeinteressierten die Orientierung an einer Denkfigur vorgeschlagen, den „Tipping Points“, also Kipppunkten. Wie sind die Konferenzteilnehmer:innen damit umgegangen?

Höchst unterschiedlich. Viele Themen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Urheberrecht lassen sich in Dichotomien fassen und sind durch Kipppunkte gut beschreibbar, zum Beispiel das Verhältnis von Freiheit und Restriktion oder von schützenswerten und nicht schützenswerten Werken. Zwei Musikforscher haben sich beispielsweise in einer quantitativen Analyse von Notendaten aus der kontemporären Popmusik mit der Frage auseinandergesetzt, ab wann der Schutz einer Melodie im Sinne des Urheberrechts überhaupt gerechtfertigt ist. Viel hintergründiger nutzt der Autor einer historischen Analyse zur Rolle von Musikverwertungsgesellschaften diese Denkfigur. Er beschreibt die technisch-rechtlichen Entwicklungen und die Reaktionen darauf als historischen Prozess, ohne Tipping Points explizit zum Gegenstand seiner Analyse zu machen. Meine Weizenbaum-Kollegin, die Juristin Sophie Beaucamp, und ich nehmen den sowohl soziologisch wie rechtlich interessanten Kipppunkt in den Fokus, an dem Low-Budget Musik im Hip-Hop in eine professionelle Produktion umschlägt. Wir haben untersucht, inwieweit die Schutzlogiken des Urheberrechts auch mit diesen am Tipping Point befindlichen Künstler:innen umgehen können und wie die rechtlichen Freiheiten und Grenzen, die bei fremdreferenzieller Musik von großer Bedeutung sind, sich hier ausloten lassen.

Wie sind Sie in ihrer interdisziplinären Zusammenarbeit vorgegangen, um die Situation zu beschreiben, in der sich diese spezielle Gruppe von Urheber:innen heute befindet?

In der Rechtswissenschaft zum Urheberrecht nimmt die Samplingdebatte großen Raum ein. Sophie Beaucamp leistet mit ihrer rechtlichen Analyse den Hauptteil unseres Beitrags zu dieser Debatte. Aus soziologischer Sicht konnte ich als Co-Autor die Analyse fundieren, indem ich empirisch untermauert aus einer systemtheoretischen Perspektive zeige, wie sehr das Sampling im Hip-Hop eine zwingende Kulturtechnik ist, die man nicht aufgrund von Rechtsunsicherheit einfach sein lassen kann. Diese Produzent:innen stecken in einem Trilemma: Es ist nicht nur die Rechtslage, es sind nicht nur die künstlerischen Inhalte und es ist nicht nur die Verwertbarkeit, die darüber bestimmen, ob sie am Ende einen Song haben, der funktioniert und ein Publikum findet, sondern das Zusammenspiel von allen drei Logiken. Das muss man bei rechtlichen Bewertungen berücksichtigen, denn wenn das Recht in der realen Welt etwas regulieren soll, dann muss es auch die Bedingungen der realen Welt anerkennen. So kommt Sophie Beaucamp in unserem Beitrag zu einer rechtwissenschaftlichen Argumentation, die die kulturelle Notwendigkeit des Samplings anerkennt und vorschlägt, sie als Zitat anzuerkennen und damit rechtssicher zu machen.

Wie verständigt man sich in einer derart diversen Gemeinschaft von Forschenden wie sie der Sammelband vereint, aber auch das Weizenbaum-Institut in seinen Forschungsgruppen?

Verständigung ist tatsächlich eine der größten praktischen Herausforderungen interdisziplinären Arbeitens: Wir beforschen den gleichen Gegenstand, aber mit anderen Perspektiven, anderem Vokabular und anderen Methoden. Das Weizenbaum-Institut hat inzwischen das perfekte Grundsatzwissen, um interdisziplinäres Arbeiten fruchtbar zu machen. Dazu gehören die Akzeptanz, dass Begriffe in verschiedenen Disziplinen ganz unterschiedlich genutzt werden, und die Offenheit, sich auch inhaltlich mit den Erkenntnissen der anderen Disziplinen auseinanderzusetzen. Dieser Prinzipien haben wir uns auch bei der Konferenz bedient, in der zu allen Beiträgen Kommentator:innen aus fachfremder Perspektive ein Eingangsstatement gehalten haben. So haben wir die interdisziplinäre Diskussion eröffnet. Unser Ziel bei der Konferenz war es, durch die Perspektiven anderer Disziplinen Fehlstellen und Unschärfen zu erkennen, Annahmen zu überprüfen, Impulse mitzunehmen und durch diese interdisziplinäre Informiertheit die Working Paper der Teilnehmenden – seien sie nun monodisziplinär oder von vornherein interdisziplinär angelegt – in ihrer Entwicklung zum publizierten Beitrag robuster werden zu lassen.

Die Konferenz ist in Zusammenarbeit mit dem Fachausschuss Urheberrecht der Gesellschaft für Musikwirtschafts- und Musikkulturforschung ausgerichtet worden. Welche Rolle spielen Kooperationen im Kontext der Interdisziplinarität?

Kooperationen schaffen Netzwerke, die für uns am Weizenbaum-Institut immens wichtig sind, zum Beispiel bei der Bewerbung unserer Calls, aber auch für den langfristigen interdisziplinären Austausch. Man profitiert gegenseitig: Die Infrastruktur, Reichweite und Ausstattung des Weizenbaum-Instituts sind für die Ausrichtung einer solchen Konferenz wichtige Erfolgsfaktoren. Die Open-Access-Publikation, mit der sich die Sichtbarkeit der Beiträge stark erhöht, ist auch mithilfe der Mittel des Weizenbaum-Instituts zustande gekommen. Wie wird uns die Urheberrechtsforschung in Zukunft weiter beschäftigen? Viele Forschende befassen sich mit der größten und manifestesten Entwicklung: der EU-Urheberrechtsreform. Der Diskurs im Vorfeld der Reform war unglaublich polarisiert. Die einen haben das Ende jeder Freiheit, die anderen das Ende jeder verwertbaren Kunst gesehen. Wie das neue Recht künstlerische Freiheit, die Verwertbarkeit von Kunst und die Macht von Plattformen beeinflusst, wird die Wissenschaft in den verschiedenen Disziplinen in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen. Daneben werden mit dem zunehmend digitalen Wissensschatz in der Gesellschaft auch Fragen der digitalen Archivierung weiterhin enorme Wichtigkeit in der wissenschaftlichen Urheberrechtsdebatte haben.

Vielen Dank für das Gespräch.