
Über das fundamental "Digitale Souveränität"
Esther Görnemann hat eine Forschungssynthese über „digitale Souveränität“ veröffentlicht – in einem innovativen Scrollytelling-Format. Wir haben sie gefragt, was es mit dem Thema - und dem Format - auf sich hat.
Alle reden von digitaler Souveränität - was bedeutet dieser Begriff?
Esther Görnemann: Digitale Souveränität hat eine unheimliche Breite von Bedeutungsinhalten und wird nur selten definiert. Das dürfte auch daran liegen, dass der Begriff in der Politik sehr häufig und in unterschiedlichen Kontexten verwendet wird. Tech-Monopole, wirtschaftliche Abhängigkeit, Fachkräftemangel, Verwaltungsdigitalisierung, Desinformation, Cyberangriffe, Spionage – die Liste von „Schmerzpunkten“ ließe sich fast beliebig fortsetzen. Jeder Schmerzpunkt bietet der Politik einen Anlass, digitale Souveränität zu fordern und damit wiederum sehr unterschiedliche politische Maßnahmen zu verknüpfen, die zu einer „Steigerung der digitalen Souveränität“ führen sollen.
Ich habe mich lange gefragt, warum man das überhaupt macht. Man könnte doch auch direkt Investitionen in die Europäische Halbleiterindustrie fordern, ohne dies unter dem Banner der digitalen Souveränität zu tun. Aber politisch ist es verständlich, denn der Begriff klingt griffig und eignet sich als Konsensvokabel. Wer würde schon sagen, dass er oder sie „gegen digitale Souveränität“ sei?
Der Begriff wertet also erstmal alles rhetorisch auf, was man mit ihm verbindet. Allerdings droht ihm dann auch das Schicksal der Hochwertwörter: irgendwann werden sie so inflationär und breit eingesetzt, dass sie als klangvolle Worthülsen für gar nichts mehr stehen, „Generationengerechtigkeit“ ist ein Beispiel.
Um es kurz zu machen: Allgemein geht es bei digitaler Souveränität um Gestaltungsspielräume, Selbstbestimmung und Teilhabe für unterschiedliche Akteure im breiten Kontext digitaler Technologien. In der ersten Ausgabe unserer neuen Reihe „fundamentals“ habe ich systematisch herausgearbeitet, wer hier eigentlich worüber souverän werden soll und wie das gelingen könnte.
Was war dabei Deine wichtigste Erkenntnis?
EG: Bei fast allen Schmerzpunkten geht es im Grunde um ein Tauziehen verschiedener Akteure um Macht und Gestaltungshoheit. Denn natürlich stehen die Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilbereiche, Staaten oder Staatenverbünde auch im digitalen Kontext miteinander in Konflikt und müssen politisch ausgehandelt werden. Die Politik kann mit verschiedenen Interventionen gezielt die Gestaltungsspielräume einzelner Akteure stärken. Sie hat dabei die große Verantwortung, diesen Aushandlungsprozess zu gestalten und beeinflusst mit ihrer Digitalpolitik, wer digitale Infrastrukturen mitgestalten kann und wessen Interessen in der Gestaltung berücksichtigt werden. So betrachtet gewinnt der Begriff dann eine Bedeutung weit über spezielle Schmerzpunkte und konkrete Lösungsansätze hinaus.
Diese Forschungssynthese erscheint als „fundamental“ – was ist das?
EG: Die Digitalisierung wirft viele Fragen auf, denen sich Forschende aus unterschiedlichen Disziplinen rund um die Welt widmen. Ständig ergeben sich neue Erkenntnisse, aber auch Widersprüche und neue Fragen.
Wir wollen mit den „fundamentals“ hier einen Überblick verschaffen. In umfangreich recherchierten Artikeln arbeiten wir den Forschungsstand, politische und öffentliche Diskurse zu gesellschaftlich relevanten Themen der Digitalisierungsforschung auf. Unsere Forschungsüberblicke widmen sich also zentralen Fragen rund um digitale Technologien und ihre Rolle in der Gesellschaft und bieten aktuelles, grundlegendes, verlässliches und kritisch reflektiertes Orientierungswissen.
Dein fundamental ist als Scrollytelling aufbereitet. Was hat Dich zu diesem in der Wissenschaftskommunikation doch eher ungewöhnlichen Format motiviert? Was erhoffst Du Dir davon?
EG: Meine Kollegin Merja Mahrt und ich fanden diese Art der Wissensvermittlung von Anfang an spannend. Wir haben uns etliche Formate der Wissenschaftskommunikation angesehen und konnten hier viele Elemente miteinander kombinieren, die uns zugesagt haben.
Das Format hat einige Vorteile. Einmal muss man nicht linear von oben nach unten lesen, sondern kann sich den Text auf unterschiedlichen Wegen erarbeiten. Damit der Text trotzdem verständlich bleibt, haben wir die Inhalte auf verschiedenen Ebenen organisiert. An vielen Stellen gibt es Vertiefungstexte, die man lesen kann, aber eben nicht muss. Auch der Reading Companion hilft, sich schnell einen Überblick zu verschaffen und auf der Seite zu navigieren. So werden lange Texte viel zugänglicher gemacht.
Am Scrollytelling mochten wir auch, dass man multimediale Elemente einbinden kann. Videos, TED-Talks, Grafiken, animierte Illustrationen – sorgen für Abwechslung und verbessern das Leseerlebnis.
Und schließlich können wir die fundamentals im Gegensatz zu Printformaten viel leichter updaten. Wir verstehen sie als langfristige Orientierungsleistung, die wir entsprechend dauerhaft aktuell halten. Es wird also bestimmt irgendwann eine Digitale Souveränität 2.0 geben!
Das klingt großartig! Wie wählt ihr denn Eure Themen aus?
EG: Bei der Auswahl der Themen legen wir mehrere Kriterien an: Es sollte gesellschaftlich und politisch relevant sein. Denn die fundamentals richten sich an die breite interessierte Öffentlichkeit, da muss also schon ein klarer Informationsbedarf erkennbar sein, dem wir dann gerecht werden können. Dann suchen wir gern Themen aus, die in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen diskutiert werden und führen diese Diskurse dann über disziplinäre Strukturen hinweg zusammen. Das eröffnet neue Perspektiven, ist aber natürlich auch eine Herausforderung, weil jede Disziplin ein wenig „ihre eigene Sprache spricht“.
Und am Ende schauen wir natürlich auch auf die Forschung des Weizenbaum Instituts. Für mich war der intensive Austausch mit unseren Forschenden zu einzelnen Aspekten der digitalen Souveränität essentiell, weil sie einfach so verschiedene Perspektiven haben und Dinge unterschiedlich bewerten. Das ist umso wichtiger, wenn ein Thema weiter weg von meinem eigenen fachlichen Hintergrund – Wirtschaftsinformatik – liegt. Die Zusammenarbeit mit unseren Forschenden werde ich in Zukunft aber noch deutlich intensivieren.
Wir haben mittlerweile eine lange Liste möglicher Themen für zukünftige fundamentals. Ich freue mich vor allem darüber, dass sie so unterschiedlich sind, denn ich mag diese Abwechslung.
Wie geht es weiter?
EG: Ich arbeite aktuell aktiv in zwei Forschungsprojekten des Weizenbaum-Instituts mit. Aus diesen Kooperationen werden perspektivisch auch wieder neue fundamentals entstehen. Mit der Forschungsgruppe „Arbeiten mit Künstlicher Intelligenz“ sehe ich mir zum Beispiel die Implikationen generativer KI am Arbeitsplatz an. Ich arbeite mit der Gruppe also den Stand der Forschung zum Thema systematisch auf, zunächst als klassischer Review-Artikel. Das Projekt nutze ich dann aber auch als thematischen Aufhänger für das nächste fundamental, in dem ich mich mit den Implikationen von generativer KI (über den Kontext ‚Arbeit‘ hinaus) beschäftigen werde. So geht unsere wissenschaftliche Arbeit Hand in Hand mit Wissenstransfer und Orientierungsleistung für die Gesellschaft – und das ist ein Ziel, das Merja und ich uns als Team Forschungssynthesen auch ganz klar gesetzt haben.