Design muss mit an den Tisch!
Bianca Herlo, Leiterin der Forschungsgruppe „Ungleichheit und digitale Souveränität", erklärt im Gespräch, wie in Zeiten von Corona gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zum Einsatz digitaler Technologien auch aussehen könnten – und welche Rolle dabei die Designforschung spielt.
Frau Herlo, bei Ihnen ist die Corona-Krise ähnlich wie bei manchen Ihrer Kolleg:innen unmittelbar vor einer größeren wissenschaftlichen Tagung ausgebrochen, die Sie geplant hatten…
Wir hatten das Symposium „Practicing Sovereignty. Means of Digital Involvement“ zum Thema „Digitale Souveränität“ organisiert – also zu einem Thema, das dann gerade im Zuge der Digitalisierungswelle während der COVID-19-Pandemie besonders an Aktualität gewonnen hat. Begleitend zu dem Symposium hätte es eine Ausstellung an der Universität der Künste Berlin geben sollen, in der Künstler:innen, Aktivist:innen und Design-Forscher:innen, die sich mit dem Thema Digitale Souveränität befassen, ihre Arbeiten vorstellen. Darunter war beispielsweise eine Arbeit von Adam Harvey, der jetzt Fellow bei uns in der Forschungsgruppe ist. Als Designer und Aktivist beschäftigt sich Harvey intensiv mit Gesichtserkennung. Für sein Porträtfoto auf unserer Institutswebseite beispielsweise hat er eine Technologie verwendet, die es verhindert, dass gängige Gesichtserkennungs-Software das Bild auslesen und ihn auf dem Bild identifizieren kann. Leider mussten wir im März einen Tag vor der Eröffnung die Veranstaltung absagen. Dafür publizieren wir nun einen Sammelband mit einer Dokumentation der Ausstellungsobjekte und mit Aufsätzen der eingeladenen Vortragsredner:innen, darunter ein Beitrag der Menschenrechtlerin Renata Avila, die als Juristin stark dafür plädiert, Design „in den Entscheidungsraum“ zu holen. Der Sammelband „Practicing Sovereignty in Times of Crisis. Means of Digital Involvement“ greift nun den aktuellen Krisenzustand auf, der durch die globale Pandemie noch einmal an Relevanz gewonnen hat, um neue Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe und Politikgestaltung zu analysieren und alternative technologische Praktiken vorzustellen.
Was hat Design als Forschungsansatz mit dem Thema „Digitale Souveränität“ zu tun?
Vielleicht sollte ich vorausschicken, dass ich „Design“ nicht nur als die Gestaltung von Objekten verstehe. Unter dem Begriff fasse ich auch die Gestaltung von Prozessen und Systemen, darunter die Ermöglichung und Moderation von gesellschaftlichen Aushandlungen. Design gibt in meiner Auffassung keine Lösungen vor, sondern einen Rahmen – und kann maßgeblich dazu beitragen, Problemlagen zu identifizieren. Es bietet partizipative Möglichkeiten zur Einbindung unterschiedlicher Perspektiven, Interessen und Wissensbestände an. Wenn man so will, geht das bis in die Politikgestaltung hinein – in diesem Fall in die Auseinandersetzung mit Themen wie Ungleichheit, Überwachung und Manipulation, die in Verbindung mit digitalen Technologien stehen. Als Designforscher:innen glauben wir: Als genuin fächerübergreifende Disziplin sollte Design viel stärker eingebunden werden in die Gestaltung und Moderation von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen.
Wie unterscheidet sich der Ansatz der Designforschung von anderen wissenschaftlichen Ansätzen?
In vielerlei Hinsicht, in der Art und Weise etwa, wie Bedeutung zugewiesen und Zusammenhänge dargestellt werden. Ein wichtiger Aspekt ist, dass sich Designforschung durch ihre Methoden auszeichnet. Wir verwenden nicht nur sprachbasierte Formate wie Interviews, sondern bringen auch Technologie und Materialität zum Einsatz. Unsere Erfahrung zeigt immer wieder: Im Machen wird eine ganz eigene Form des Wissens zutage gefördert, welche eine andere Qualität birgt als eine rein intellektuelle Auseinandersetzung.
Wie kann man sich das vorstellen?
Eine Methode, die wir häufig als einen Baustein im Prozess verwenden, ist das kollaborative Mapping. Dafür benutzen wir zum Beispiel Holzklötzchen, Icons und Beschriftungsetiketten. Das alles wird auf einer bemalbaren Tischunterlage arrangiert. Die Teilnehmer:innen bauen mit diesen Hilfsmitteln ein gemeinsames Modell. Das kann ganz konkret ein räumliches Ensemble in einer Stadt sein oder etwas viel Abstrakteres wie ein Konzept für eine digitale Anwendung oder eine Abfolge von chronologischen Stationen bei der Abwicklung einer medizinischen Dienstleistung. Wir verwenden in diesem Kontext den in der Techniksoziologie entstandenen Begriff des „Boundary Objects“, des Grenzobjekts. Boundary Objects sind nicht nur materialisierte Ideen, sondern wissensgenerierende Objekte. Es geht also nicht nur um das gemeinsame Machen, sondern auch um die Reflexion darüber.
Findet die Gruppe, die ein kollaboratives Mapping durchführt, am Ende dann zu einer gemeinsamen Meinung?
Für den Ablauf eines solches Prozesses – ob bezogen auf einen einzelnen Workshop oder auf ein praxisbasiertes Forschungsprojekt – gibt es ein hilfreiches Schema: Analyse, Projektion, Synthese (nach Wolfgang Jonas). Man startet mit der Frage: Was haben wir für eine Situation? Und wie stellt sich diese Situation aus Sicht der verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft dar? Dann die Projektion, die Übertragung in die Zukunft: Was können wir machen, wie können wir uns das idealerweise vorstellen? Zuletzt die Synthese oder Abwägung: Was ist realisierbar unter den vorhandenen Bedingungen? Welche Risiken wiegen stärker, welche schwächer? Dabei geht es vor allem um die Gründe, die für oder gegen Entscheidungen vorgebracht werden, um die differenzierte Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Problemlagen, Bedürfnissen und Interessen und darum, wie Entscheidungen diese Interessen tangieren.
Zurück zum Thema Digitale Souveränität! Inwiefern, meinen Sie, hätte die Corona Warn-App, die es seit dem Sommer gibt, eine andere Gestalt angenommen, wenn sie auf dem Wege eines Aushandlungsprozesses zustande gekommen wäre, wie sie ihn beschreiben?
Ich weiß nicht, ob die Warn-App eine andere Gestalt angenommen hätte, überhaupt ist die Frage sehr schwierig zu beantworten. Ich glaube, dass man die grundsätzliche Entscheidung differenzierter hätte treffen können, mir scheint, man hat von Anfang an zu sehr auf eine technologische Lösung eines komplexen Problems gesetzt. Jedenfalls hat uns Corona gezeigt, dass wir andere Tools brauchen, um in Krisensituationen gemeinschaftlich agieren zu können. Designansätze haben das Potenzial für eine gute Basis, um für künftige Krisen robuster dazustehen. Meine Vermutung ist, dass man, wenn es einen partizipativen Prozess gegeben hätte, anstelle der einen Warn-App einen bunten Strauß verschiedener, kleinerer, jedoch gezielterer Maßnahmen verabschiedet hätte.
Und die App selbst? Bei der Entwicklung in den vergangenen Monaten hatte ja die zivilgesellschaftliche Entwickler-Community einen relativ starken Einfluss, und die technische Realisierung selbst erfolgte teilweise unter Open-Source-Regeln. Was wäre hier anders gelaufen, wenn Design und Designforschung eine aktivere Rolle im Prozess gespielt hätten?
Die Corona-Warn-App war von Anfang an ja sehr stark symbolisch aufgeladen. Man verband damit Hoffnungen fast wie auf einen Impfstoff, auch wenn es völlig unklar war und immer noch ist, welche konkreten Erfolge damit wirklich erzielt werden, denn die Zwischenbilanz sieht bislang durchwachsen aus. Gleichzeitig wurden die Risiken zu Beginn unterschätzt. Bei einer ersten Fassung der App zum Beispiel hatte man ja, trotz der Einwände von Seiten des Datenschutzes, eine zentrale Speicherung der Daten vorgesehen. Erst nach einer längeren Debatte und nach Kritik etwa durch zivilgesellschaftlich engagierte Akteure, aber nicht zuletzt auch aufgrund der benötigten Programmschnittstellen, ist die Politik auf eine dezentrale Lösung umgeschwenkt. Dennoch, der Prozess lief trotz zeitlicher Verzögerung und in Anbetracht des immensen Drucks gut und die Veröffentlichung des Quellcodes war extrem wichtig. Aber die Frage nach der Implementierung einer solchen App, nach ihrer Praktikabilität und Integration, also nach den konkreten Hürden in der Praxis wäre sicherlich eine Hauptfrage in einem Aushandlungsprozess gewesen, bei dem die Designforschung eine moderierende Rolle eingenommen hätte. Besonders spannend fand ich, dass die Debatte um die Corona-App das ganze Thema in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat. Fragen der Datensicherheit, der Privatsphäre, der Datensouveränität, der digitalen Rechte, der digitalen Kompetenz und der individuellen wie gesellschaftlichen Verantwortung wurden anhand dieses Boundary Objects Corona-Warn-App von unterschiedlichen Gruppen in hoher Intensität besprochen. Bin ich unsozial, wenn ich nicht bereit bin, meine Daten zu teilen und somit zur Eindämmung des Virus beizutragen? Das ist eine ganz praktische Frage. Hierüber in einen gesellschaftlichen Diskurs zu treten, halte ich für enorm wichtig. Und so ein Diskurs ist auch nicht mit der Vollendung einer App-Entwicklung abgeschlossen. Eher andersherum: Gerade durch die Debatte um die Corona-App wurden wir beispielsweise gezwungen, darüber nachzudenken, wie es um den Datenschutz und die Privatsphäre bei den anderen Apps bestellt ist, die man auf dem Smartphone mit sich herumträgt. Hier sehe ich immer noch einen starken Bedarf danach, Lösungen zu entwickeln, die nicht primär technischer Art sind. Es müsste vielmehr um eine Ausweitung der digitalen Kompetenzen gehen, und darum, Entscheidungen zu finden, die uns robuster für künftige Krisen werden lassen und die wir als Gesellschaft am Ende gemeinsam tragen können.
Vielen Dank für das Gespräch!