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„Die Berliner Digitalisierungsstrategie muss aus den Bedürfnissen der Stadt heraus gestaltet werden“

Ein Gespräch mit Elizabeth Calderón Lüning, Doktorandin in der Forschungsgruppe „Ungleichheit und digitale Souveränität“

Der Berliner Senat hat im September 2018 auf Grundlage des Koalitionsvertrags von SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/Die Grünen die Entwicklung einer Digitalisierungsstrategie für Berlin beschlossen. Für die Projektbegleitung beauftragte die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe die Beratungsfirma Ernst & Young. Die Politikwissenschaftlerin Elizabeth Calderón Lüning erforscht am Weizenbaum-Institut, wie sich Digitalisierungsprozesse auf die Entwicklung urbaner Räume auswirken, unter anderem am Beispiel der Berliner Digitalisierungsstrategie.

Elizabeth, welche Chancen bietet eine Digitalisierungsstrategie für die Stadt Berlin und für seine Bürgerinnen und Bürger?

Berlin ist einer der interessantesten Orte in Europa, wenn es um Technologieentwicklung geht. Wir haben viele Startups aus verschiedenen Bereichen wie dem Finanz-, Gesundheits- oder Mobilitätssektor; aber auch viele große Plattformen wollen sich hier ansiedeln. Mit der Berliner Digitalisierungsstrategie erhält der Berliner Senat und auch die Bürgerinnen und Bürger der Stadt die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wo wir, sagen wir mal, in 20 Jahren stehen wollen – und nicht nur die Wirtschaft. Die digitalen Infrastrukturen und Dienstleistungen, die wir jetzt in der Stadt aufbauen – oder eben bewusst nicht aufbauen – werden unser urbanes Leben über mehrere Jahrzehnte bestimmen. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn wir nachhaltige Mobilitätskonzepte einführen, die öffentlichen Nahverkehr mit sicheren Radwegen und verschiedenen Leihradsystemen verbinden, stellen wir jetzt die Weichen für eine städtische Klimawende. Deshalb ist es wichtig, dass die Berliner Digitalisierungsstrategie aus den Bedürfnissen der Stadt heraus gestaltet wird.  

In Berlin gibt es eine aktive Zivilgesellschaft und viele wissenschaftliche Einrichtungen, die zu Digitalthemen forschen. Inwieweit werden diese Organisationen in die Entwicklung der Digitalisierungsstrategie einbezogen?

Nicht genug! Der Strategieentwicklungsprozess wird gerade von der Beratungsfirma Ernst & Young getragen. Diese Firma hat mit Sicherheit viel Erfahrung in der Begleitung solcher Prozesse, insbesondere im Bereich Digitalisierung. Wenn man bedenkt, dass Berlin über eine vielfältige Akteurslandschaft verfügt, die das Thema Digitalisierung aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, wäre es aber eine vertane Chance, wenn man sich lediglich darauf beschränken würde, Expertise „von der Stange“ einzukaufen. Vielmehr sollte der Entwicklungsprozess auf den Innovationsgeist der Stadt zurückgreifen. Der Strategieentwicklungsprozess, wie er aktuell konzipiert ist, umfasst Beteiligungsformate wie Fokusgruppengespräche und Stakeholder Dialoge. Die Gestaltung dieser Formate ist aber nicht besonders transparent. Im Internet findet man lediglich drei Dokumente zur Digitalisierungsstrategie, und die machen nicht deutlich, wie und mit wem gesprochen wird. Auch die Tatsache, dass Stakeholdergruppen wie die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft immer getrennt voneinander angesprochen werden, verhindert meiner Meinung nach einen umfassenden Austausch. Dabei bieten die Digitalisierungsstrategie und ihr Aushandlungsprozess den optimalen Rahmen, um alle Akteursgruppen an einen Tisch zu holen, zum Beispiel die BVG, Verdi, Freifunk, AlgorithmWatch, den Verbraucherschutz oder uns, das Weizenbaum-Institut. Diese Gespräche hätten das Potenzial, „outside the box“ zu denken.  

Welche Gefahren siehst Du, wenn Institutionen aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Gemeinwohlökonomie nicht ausreichend bzw. zu spät in den Prozess einbezogen werden?

Ob auf Ebene der Politik, Verwaltung, Wirtschaft oder Zivilgesellschaft – jeder Bereich hat seinen „blinden Fleck“. Nehmen wir das Thema digitale Teilhabe als Beispiel. Wenn wir Maßnahmen zur Förderung digitaler Teilhabe entwickeln wollen, brauchen wir zunächst Forschungsergebnisse, um zu verstehen, wie digitale Ungleichheit tatsächlich aussieht: Wer ist davon betroffen? Welche Rolle spielen strukturelle Ungleichheiten? Was sind die Folgen digitaler Ungleichheit? Darüber hinaus brauchen wir die Einbindung relevanter Verwaltungsressorts, aber auch die Einbindung kiezbezogener Organisationen wie Familienzentren und Stadtbibliotheken. Kurz gesagt, wir müssen alle Personen, Einrichtungen und Organisationen ansprechen, die digitale Teilhabe in einer Stadt ermöglichen können. Nur wenn diese Akteure frühzeitig in die Planung einbezogen werden, können „blinde Flecken“ sichtbar gemacht werden, und die Strategie als solche hat gute Erfolgsaussichten.

Du bist Mitglied im Bündnis digitale Stadt Berlin, einem freien Bündnis, dem über 30 Akteure aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft angehören. Was sind die Aufgaben des Bündnisses und wie nehmt Ihr Einfluss auf die Erarbeitung der Berliner Digitalisierungsstrategie?

Das Bündnis digitale Stadt hat sich zusammengefunden, um das Thema Digitalisierung mit Stadtpolitik zusammen zu denken. Grundsätzlich begrüßen wir die Entwicklung einer Berliner Digitalisierungsstrategie und setzen uns dafür ein, dass sie öffentlich ausgehandelt wird, in einem möglichst breiten, transparenten und nachvollziehbaren Prozess. Offiziell haben wir keine zugewiesene Aufgabe in dem Prozess. Unser Anliegen ist es, uns als Zivilgesellschaft zu organisieren, um die Digitalisierungsstrategie kritisch zu begleiten. Inhaltlich stützen wir uns auf die Cities Coalition for Digital Rights, zu deren Unterzeichnern auch Berlin gehört. Diese Initiative basiert auf dem Gedanken, dass die gleichen Rechte, welche Menschen offline haben, auch online gelten. Dazu gehören zum Beispiel der gleichberechtigte Zugang zum Internet, der Schutz persönlicher Daten und das Recht auf Teilnahme an digitalen Meinungsbildungsprozessen. Gerade sind wir dabei, für diese Prinzipien konkrete Handlungsbereiche und -empfehlungen zu formulieren. Wir organisieren öffentliche Veranstaltungen, um über die Digitalisierungsstrategie zu informieren. Unsere Aufgabe ist es nicht, die Inhalte für die Strategie zu liefern, aber wir bündeln unser Wissen und unsere Expertise, um Themen zu setzen – und vor allem um mehr Öffentlichkeit und eine partizipative Aushandlung zu fordern.

In Deiner Dissertation untersuchst Du, wie Aushandlungsprozesse die digitale Transformation in Städten formen und wie digitale Souveränität in der Politikgestaltung zum Ausdruck kommt. Dabei schaust Du Dir auch den Entwicklungsprozess der Berliner Digitalisierungsstrategie an. Zu welchen Erkenntnissen kommst Du?

Es ist noch zu früh, um öffentlich über meine Forschungsergebnisse zu sprechen. Allerdings gibt es zwei konkrete Gedankenstränge, die sich gerade mehr und mehr herauskristallisieren. Zum einen zeigt sich, wie wichtig es ist, politische Strukturen für das Politikfeld Digitalisierung zu schaffen, um ressortübergreifend in Berlin arbeiten zu können. Verwaltungseinheiten haben klare Zuständigkeiten, aber Fragen zur Digitalisierung funktionieren nicht nach dieser Logik. Deshalb braucht es neue politische Strukturen, die es ermöglichen, die Verwaltungssielos zu durchdringen. Das zweite Thema, das mich beschäftigt, ist das Thema digitale Kompetenz. Hierbei handelt es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem, auf das noch Antworten gefunden werden müssen. Es geht nicht nur um das Fehlen technischer Kompetenz, sondern auch darum, auf Verwaltungsebene die digitale Transformation und ihr Einwirken auf die Stadtgesellschaft zu verstehen. Die Digitalisierung schafft neue Formen sozialer Ausgrenzung, sie verändert, wie wir konsumieren, arbeiten und ganz allgemein wie wir uns in der Stadt bewegen. Digitalisierung muss daher Aufgabe aller Ressorts sein. Diesen beiden Herausforderungen muss sich die Politik auf alle Ebenen stellen.

Wie gehst Du bei Deiner Dissertation vor, welche Methoden wendest Du an?

Als Politikwissenschaftlerin verfüge ich über einen breiten Methodenbaukasten, um das Entstehen des Politikfeldes Digitalisierung zu begreifen und zu erforschen. Mit meiner Forschungsgruppe „Ungleichheit und digitale Souveränität“, die sich in der Designforschung verortet, habe ich aber auch die Freiheit, interventionistisch und projektbegleitend zu forschen. Ich habe eine sehr aktive Rolle im Bündnis digitale Stadt und bin auch eine seiner Mitgründerinnen. Die Arbeit im Bündnis verschafft mir nicht nur einen neuen Zugang zu meinem Dissertationsthema, sondern sie ist in sich auch Bestandteil meiner Forschungsmethode. 


Die Forschungsgruppe "Ungleichheit und digitale Souveränität" richtet vom 12. bis 18.03.2020 die Veranstaltung „Practicing Sovereignty. Means of digital involvement“ aus, an dem auch das Bündnis digitale Stadt Berlin mit einem Workshop zum Thema "Digital Strategy Berlin – Sovereign and sustainable for the common good?" beteiligt ist. Mehr Informationen zur Veranstaltung hier.