Angriff auf die „Meinungspolizei“: Wie sich rechte Gegenöffentlichkeiten im Online-Diskurs gegenseitig mobilisieren
Studie zeigt: Online-Nutzer:innen mit einem geringen Medienvertrauen neigen stärker dazu, ihre Meinung zu äußern, wenn andere Nutzer:innen behaupten, diese Meinung werde zensiert.
Das Gefühl vom Mainstream-Diskurs ausgeschlossen zu sein, ist ein zentrales Merkmal von Gegenöffentlichkeiten, das in jüngster Zeit vor allem von rechten Gegenöffentlichkeiten instrumentalisiert wird. So mobilisieren rechte Gegenöffentlichkeiten ihre Mitglieder häufig, indem sie behaupten, bestimmte Ansichten und Fakten werden von den Medien unterdrückt oder zensiert. Weizenbaum-Wissenschaftlerin Marlene Kunst ist zusammen mit Florian Töpfl (Universität Passau) und Leyla Dogruel (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) in einer Studie der Frage nachgegangen, welche Wirkung eine solche Rhetorik, die die Wissenschaftler:innen als Suppressed Voice Rhetoric bezeichnen, auf den öffentlichen Diskurs im Netz hat.
„In einem Online-Experiment haben wir untersucht, welchen Effekt diese Art der Rhetorik in Kommentarspalten unter Nachrichtenartikel hat, wenn es um das Thema Flüchtlinge geht,“ erläutert Marlene Kunst, die am Weizenbaum-Institut in der Forschungsgruppe „Digital Citizenship“ promoviert. „Studien haben gezeigt, dass der Eindruck, andere User würden die eigene Meinung teilen, ein Gefühl der sozialen Unterstützung auslöst. Dieses Gefühl kann wiederrum zu einer erhöhten Wahrnehmung der eigenen Macht führen, was die Bereitschaft erhöht, die eigene Meinung zu äußern.“
In ihrer Studie konnten die Wissenschaftler:innen einen Zusammenhang zwischen der Mobilisierung rechter Gegenöffentlichkeiten und der Suppressed Voice Rhetoric nachweisen: Je niedriger das Medienvertrauen in Bezug auf Flüchtlinge, desto größer das Gefühl der sozialen Unterstützung, wenn Nutzerkommentare nicht nur flüchtlingskritisch waren, sondern auch behaupteten, man dürfe solche Meinungen nicht äußern beziehungsweise solche Meinungen würden von der Meinungspolizei zensiert werden. Die Ergebnisse legen nahe, dass diese Art der Rhetorik unter denjenigen, die den Medien bezüglich der Flüchtlingsthematik sehr wenig Vertrauen entgegenbringen, ein Gefühl der sozialen Zusammengehörigkeit fördern.
Die Erkenntnisse stellen vor allem Journalist:innen vor ein Dilemma. Letztendlich kann es sehr gute ethische Gründe dafür geben, die Meinungen von rechten Gegenöffentlichkeiten aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen. Die Studienergebnisse weisen jedoch darauf hin, dass im öffentlichen Diskurs im Netz ein solcher Ausschluss dazu führen kann, dass diese Meinungen noch stärker vertreten werden.