de / en

Was, wenn die Plattformen einfach mit den Schultern zucken?

09/24/2025

Mit dem Digital Services Act versucht die EU ihre Bürger*innen vor den Risiken digitaler Plattformen, großteils US-amerikanischer, zu schützen. Wir sprachen mit LK Seiling, Co-Autor eines neuen Policy Papers, wie das in der Praxis funktionieren soll.

Der Digital Services Act (DSA) ist eins der großen europäischen Gesetze, das digitale Plattformen – viele davon aus den USA – regulieren soll. Seit Mai 2024 gilt das Gesetz auch auf nationaler Ebene, doch die Umsetzung ist inmitten geopolitischer Spannungen alles andere als unkompliziert. Zuletzt drohte die Trump-Regierung denjenigen Staaten, die versuchen würden, „seine“ Champions zu regulieren, mit weiteren Strafzöllen.

Ein zentraler Baustein der Umsetzung des DSA ist der Zugang zu Plattformdaten für Forschende. Wie dieser Zugang in der Praxis genau aussehen soll und welche Herausforderungen noch bleiben, beschreiben LK Seiling, Clara Iglesias Keller, Jakob Ohme, Ulrike Klinger und Claes de Vreese in ihrem neuen Weizenbaum Policy Paper. Am 25. & 26. September laden die Autor*innen außerdem zu den Data Access Days ans Weizenbaum-Institut ein: Über 100 Teilnehmer*innen aus Wissenschaft, Verwaltung, Wirtschaft und Politik tauschen sich über die Gegenwart und Zukunft der Forschung zu Plattformen aus. 


Der Digital Services Act soll digitale Plattformen im europäischen Raum regulieren. Doch der digitale Raum hält sich nicht an Ländergrenzen und ist global angelegt. Welche Wirkung kann der DSA unter diesen Bedingungen überhaupt entfalten?

LK Seiling: Natürlich umspannt das Internet den ganzen Planeten, allerdings wird seine Infrastruktur, genau wie digitale Dienstleistungen, meist von Unternehmen und Organisationen betrieben, die sich an die Gesetzgebung der Länder halten müssen, in denen sie tätig sind. Genau hier setzt der DSA an. Er legt in erster Linie Regeln für Vermittlungsdienste fest, die in der EU angeboten werden.

Für Nutzer*innen schafft der DSA zum Beispiel mehr Transparenz und Beschwerdemöglichkeiten, was die Inhaltemoderation angeht, schränkt Tracking zu Werbezwecken ein oder verbietet irreführende Designs.

Was die Effekte auf der strukturellen Ebene angeht, gehen die Forschungsmeinungen auseinander. Auf der strukturellen Ebene enthält der DSA besondere Verpflichtungen, die allerdings nur für sehr große Online-Plattformen und Suchmaschinen gelten. Das sind umfassende Transparenz- und Sorgfaltspflichten, unter anderem der Forschungsdatenzugang. Diese Anforderungen beuteten für große Plattformen nicht nur zusätzliche Kosten – sondern auch, dass sie Kontrolle darüber abgeben müssen, was über sie bekannt wird.

Dieses Wissen könnte dazu beitragen, die Plattformen für europäische Nutzer*innen besser zu machen. Zum anderen könnte es aber auch – insbesondere in Kombination mit dem Digital Markets Act (DMA) – dazu führen, dass sich europäische Alternativen zu den dominanten amerikanischen und chinesischen Plattformen entwickeln. Es gibt aber auch Forscher*innen, die befürchten, dass der DSA die bereits herrschende Dominanz großer Plattformen festschreibt. Im Moment ist es allerdings noch zu früh, die Wirkung des DSA abschließend zu beurteilen.


Wissenschaftler*innen bekommen mit dem DSA die Möglichkeit, sogenannte systemische Risiken, die Online-Plattformen für die Gesellschaft darstellen, zu untersuchen. Was ist damit genau gemeint, was befürchtet die EU?

LS: Die europäischen Gesetzgeber erkennen an, dass große Plattformen einige Nutzen für unsere Gesellschaft haben – beispielsweise die Möglichkeit des globalen Austauschs zu privaten oder geschäftlichen Zwecken. Zugleich bergen diese Plattformen natürlich auch das Potential für negative Effekte mit sich. Der DSA nennt dafür einige Beispiele: Auf struktureller Ebene sind das Risiken wie die Verbreitung illegaler Inhalte, geschlechtsspezifische Gewalt, negative Auswirkungen für die gesellschaftliche Debatte, den Schutz der öffentlichen Gesundheit und von Wahlprozessen oder die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.

Es geht aber auch um individuelle Risiken wie die körperliche und mentale Gesundheit von Personen bis hin zur Verletzung des Jugendschutzes und von Grundrechten. Das sind sehr breite Kategorien, die sich im Zweifel auch überlappen können: im Fall von KI-generiertem Material von Kindesmissbrauch haben wir es beispielsweise mit illegalen Inhalten, geschlechtsspezifischer Gewalt, sowie Grundrechts- und Jugendschutzthemen zu tun. In diesem Fall ist klar, dass es sich um ein systemisches Risiko handelt, aber es wird auch deutlich: Plattformen sind nicht zwingend nur Risikoquellen. Sie sind nicht verantwortlich für die Erstellung solcher Inhalte, sondern tragen durch ihre Verbreitung zum Gesamtrisiko bei.

Man muss natürlich bedenken, dass mit Blick auf technische Infrastrukturen wie Rechenzentren und Unterseekabeln, von denen die Plattformen abhängen, eine klare Trennung zwischen digitalen und analogen Risiken nicht möglich ist. In diesem Kontext argumentiert die Rechtswissenschaftlerin Rachel Griffin zum Beispiel, dass der Klimakollaps ein systemisches Risiko für unsere Grundrechte darstelle und Plattformen, die klimaschädliche KI-Technologien ausbauen, auch entsprechende Risikominderungsmaßnahmen umsetzen sollten.

Am Ende liegt die Entscheidung darüber, was als systemisches Risiko gilt, bei den Aufsichtsbehörden – und letztendlich bei den zuständigen Gerichten.


Wer entscheidet darüber, ob Forschende Zugang zu den Daten bekommen?

LS: Der Digital Services Act unterscheidet zwischen dem Zugang zu öffentlich verfügbaren Daten – z.B. öffentliche gepostete Inhalte auf einer Plattform, oder die Anzahl an Likes die ein Post bekommt – und einem umfassenden Datenzugang, der auch nicht-öffentliche Daten beinhaltet. Das sind zum Beispiel Informationen darüber, wer wann welche Inhalte gesehen hat, aber auch Organisationsinterna wie die Dokumentation oder Ergebnisse von Tests, die die Plattformen regelmäßig an Nutzer*innen und mit deren Daten durchführen.

Um Zugang zu öffentlichen Daten zu erhalten, müssen Wissenschaftler*innen diesen bei den Plattformen selbst beantragen. Damit sind – zumindest bisher – noch einige Probleme verbunden: die Antragsformulare unterscheiden sich massiv und sind teilweise unverhältnismäßig, die Prüfprozesse dauern teilweise Monate und es gibt Probleme mit der Verlässlichkeit der Daten.

Beim Zugang zu nicht-öffentlichen Daten gibt es noch keine Praxiserfahrungen, weil dieser erst Anfang Juli von der EU endgültig spezifiziert wurde. Dabei reichen Forschende zunächst über das DSA Data Access Portal der EU-Kommission standardisierte Anträge ein. Die zuständigen Behörden (Digital Services Coordinators) des Landes, in dem die Plattformen angesiedelt sind, entscheiden, ob die Wissenschaftler*innen ausreichend dargelegt haben, dass sie systemische Risiken untersuchen, und ob sie die Voraussetzungen erfüllen, um die im Zweifel äußerst sensiblen Daten angemessen zu verarbeiten.


Was brauchen Forschende von ihren eigenen Institutionen, aber auch von der Politik, wenn sie mit Plattformdaten arbeiten wollen? Wo liegen dabei die Herausforderungen?

LS: Beim Zugang zu öffentlichen Daten steht Wissenschaftler*innen vor allem die rechtliche Unsicherheit beim Thema Scraping im Weg. Es ist zurzeit nicht klar, wann es legal ist, selbst auf öffentlich zugängliche Plattforminhalte zuzugreifen und wann nicht. Hier wäre Rechtssicherheit extrem hilfreich.

Was den Zugang zu nicht-öffentlichen Daten angeht, stehen Wissenschaftler*innen vor allem vor infrastrukturellen Herausforderungen. Um solche sensiblen personenbezogenen Daten sicher verarbeiten zu können, benötigen sie eine angemessene Infrastruktur und eine Menge institutioneller Unterstützung, was das Datenmanagement, Datenschutz und Datensicherheit angeht. Und das kostet natürlich Geld.

Zudem wird der Forschungsdatenzugang nur genehmigt, wenn klar ist, dass dieser bei der Erforschung systemischer Risiken ein zentrales Instrument für Forschende ist. Es braucht also Fördermittel für Forschungsprojekte, die ein breites Spektrum systemischer Risiken abdecken und dabei die neu geschaffenen Datenzugangsrechte nutzen. Hier sind die EU, der Bund, die Länder, aber auch andere Drittmittelgeber gefragt.

Parallel dazu sollten Institutionen sich darauf vorbereiten, ihre Wissenschaftler*innen rechtlich zu schützen und zu unterstützen, falls die zunehmend mutiger werdenden US-Plattformen auf die Idee kommen, nicht nur amerikanische, sondern auch europäische Wissenschaftler*innen aufgrund ihrer Forschung zu verklagen. Dabei stellen nicht nur die Plattformen eine potenzielle Bedrohung dar: Das Stanford Internet Observatory, das sich mit der Verbreitung von Falschinformationen während Wahlen beschäftigt hat, wurde letzten Sommer geschlossen, nachdem dieselben republikanischen Abgeordneten, die jetzt auch den DSA ins Visier nehmen, mit Klagen und Kongressuntersuchungen Druck ausgeübt hatten.


In eurem Policy Paper erwähnt ihr bereits aktuelle geopolitische Spannungen. Macht ihr euch Sorgen, dass die US-Regierung im Konfliktfall die Umsetzung des DSA einschränkt?

LS: Ich glaube nicht, dass die US-Regierung selbst die Umsetzung des DSA einschränkt. Sie kann allerdings Tech-Konzernen Rückendeckung geben, wenn diese die europäischen Gesetze nicht befolgen. Die Europäische Kommission führt aktuell 14 Verfahren gegen große Plattformen, bei denen auch unzureichender Datenzugang eine Rolle spielt – u.a. gegen X, Instagram und Facebook. Sollten sich die Konzerne nicht mit der Kommission einigen, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie eine Strafzahlung leisten müssen. Aber was passiert, wenn die Plattformen dann einfach mit den Schultern zucken? Auf die Unterstützung der US-Regierung wird sich die EU in diesem Fall nicht verlassen können.

Auf dieses „Worst-Case-Szenario“ gäbe es eigentlich nur eine mögliche Antwort: ein Ausschluss der Plattformen vom europäischen Markt. Dass die Plattformen dieses Risiko eingehen, ist unwahrscheinlich – schließlich kommen signifikante Teile ihres Jahresumsatzes aus Europa. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die Europäische Kommission sich nicht beirren lässt und den DSA soweit durchsetzt, wie es ihr möglich ist.

Darüber hinaus lohnt es sich, intensiver über dezentrale, europäische Alternativen zu amerikanischen und chinesischen Plattformen nachzudenken.


Am 25. und 26. September habt ihr andere Forschende zu den DSA40 Data Access Days ans Weizenbaum-Institut eingeladen, um euch über den Forschungszugang in der Praxis auszutauschen. Welche Fragen und Perspektiven wollt ihr dort diskutieren?

LS: Zum einen wollen wir mit allen involvierten Akteuren – Forschenden, Regulierungsbehörden und Plattformen – die hier angesprochenen Punkte diskutieren: Welche Probleme haben sich im ersten Jahr des öffentlichen Datenzugangs nach DSA ergeben? Was können wir von dem nicht-öffentlichen Datenzugang erwarten und was braucht es für einen erfolgreichen Zugangsantrag? Welche Rolle spielt der Zugang zu Plattformdaten im Kontext aktueller geopolitischer Spannungen?

Zum anderen wollen wir Wissenschaftler*innen und andere Akteur*innen vernetzen, um Gemeinschaftsgefühl und ein Bewusstsein für gemeinsame Ziele zu schaffen. Denn nur wenn Forschende gemeinsam und koordiniert vorgehen, haben sie eine realistische Chance, den Datenzugang nach ihren Vorstellungen zu nutzen und gestalten – und auf dem Weg dahin haben wir noch eine Menge Arbeit vor uns.

Vielen Dank für das Gespräch!
 


LK Seiling ist Assoziierter Forscher am Weizenbaum-Institut und für die Koordination des #DSA40 Data Access Collaboratory verantwortlich. Er absolvierte seinen Bachelor in Psychologie an der Universität Mannheim, die Masterstudiengängen Cognitive Systems an der Universität Potsdam und Human Factors an der Technischen Universität Berlin.

Das Interview führten Moritz Buchner und Leonie Dorn

 

Mehr erfahren: