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Die USA als digitaler Vorreiter in der Bildung?

Ein Erfahrungsbericht zum Research-in-Residence in den USA

 

Wie gestaltet sich die Digitalisierung der Bildung in den USA? Dr. André Renz, Leiter der Forschungsgruppe Datenbasierte Geschäftsmodellinnovation, war Anfang 2020 gemeinsam mit dem Doktoranden Bennet Etsiwah im Rahmen eines Researcher-in-Residence-Programms in Florida und Kalifornien. Im Mittelpunkt ihres Forschungsaufenthalts stand die Frage, wie Digitallösungen in amerikanischen Schulen eingesetzt werden und wie diese die Bildung und Wissensvermittlung beeinflussen.

Die Einblicke, die uns durch die Besuche amerikanischer Schulen während unseres Forschungsaufenthaltes gewährt wurden, sind so spannend wie vielfältig zugleich: Wir haben an inspirierenden Gesprächsrunden teilgenommen, in denen die digitale Datensouveränität des Individuums im Zentrum stand. Wir haben Technologien wie Gaggle kennengelernt, die das digitale Verhalten von Millionen von Schüler:innen überwachen und zu Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit digitalen Medien durch maximale Transparenz und Kontrolle erziehen sollen. Und: Wir haben Diskussionen erlebt, die sich im emotionalen Spannungsfeld zwischen absoluter Euphorie und totaler Skepsis hinsichtlich der Relevanz einer digitalisierten Bildung bewegen. So wird beispielsweise einerseits passioniert für den Einsatz von Alexa oder Google Home im Klassenzimmer plädiert und andererseits Technologie per se jegliche nutzenstiftende Funktion im Bildungsbereich abgesprochen. Die Namen der großen Tech-Lords Google, Apple, Amazon und Co. sind dabei in fast allen von uns geführten Gesprächen präsent, was die Vermutung nahelegt, dass diese Konzerne einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Bildungslandschaft in den USA haben.

Die Kluft zwischen Pädagogik und Technologie bleibt groß

Wie wir schon in unserer Studie „Data Analytics – The Future of Innovative Teaching and Learning“ für den europäischen Bildungsmarkt zeigen konnten, lassen sich auch in den USA verschiedene Teildiskurse innerhalb der Debatte über die Digitalisierung von Bildung identifizieren. Prinzipiell erkennen viele unserer Gesprächspartner aus dem Bildungsbereich die Potenziale an, die der Einsatz von digitalen Lösungen im Klassenzimmer haben kann – sei es, um Schüler:innen auf eine technologieorientierte Welt vorzubereiten oder um das Kurs-, Schul- und Verwaltungsmanagement zu vereinfachen. Oftmals wird allerdings der Technologie ein universeller Charakter zugesprochen, der in der Lage sein soll, die komplexen Herausforderungen zu bewältigen, denen sich unsere Gesellschaft im Zeitalter der Digitalisierung stellen muss. Dabei wird – bewusst oder unbewusst – unterstellt, dass die bloße Anwesenheit digitaler Werkzeuge die Bildung verbessern wird, die Technik also einen reinen Selbstzweck erfüllt. In vielen Gesprächen wurde schnell deutlich, dass die Implementierung neuer Technologien in den Unterricht oft Vorrang vor der Bereitschaft eines tatsächlich nutzenstiftenden Einsatzes im Sinne einer ganzheitlich durchdachten Medienpädagogik hat. Damit bleibt die Kluft zwischen Pädagogik und Technologie, die kulturelle, führungsbezogene, pädagogische, curriculare und prozessuale Fragen umfasst, weiterhin groß. Die permanente Weiterentwicklung bzw. Innovationsdynamik in der Technologie schafft dabei auch eine Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der Schüler:innen und den Fähigkeiten der Lehrenden. Mit dem technologischen Fortschritt wird die berufliche Entwicklung sodann zu einer immer dringlicheren Herausforderung. Obgleich viele unserer Gesprächspartner:innen in den USA von einer Euphorie und Motivation getragen werden, Neues auszuprobieren, wurde auch deutlich, dass sich Lehrer:innen mit Blick auf die digitale Wissensvermittlung nur unzureichend ausgebildet fühlen. Auch die EdTech-Beauftragten der Schulbezirke und Schulen sind sich im Umgang mit den technologischen Möglichkeiten nicht immer sicher. In Gesprächen mit einzelnen Schulen konnten wir jedoch auch erfahren, dass die Auflösung dieser entgegengesetzten Erwartungshaltungen und Kompetenzverlagerungen bereits im Gange ist. In einigen Schulen werden zum Beispiel flexible Lernumgebungen, Media Center oder Projekt- und Wissenslabore mit einer Auswahl verschiedener Technologien eingerichtet. Hier entscheiden die Schüler:innen, welche Technologien sie für ihre Projekte einsetzen wollen.

Die Personalisierung des Lernens

Einen weiteren Kernaspekt, den wir in den Gesprächen mit EdTech-Beauftragten der Schulbezirke und Schulen identifizieren konnten, bildet die Personalisierung des Lernens. Wichtige Aspekte personalisierter Lernkonzepte sind zum Beispiel ein variables Lerntempo sowie das Berücksichtigen konkreter Lernbedürfnisse, Interessen und kultureller Hintergründe der Lernenden. An vielen Schulen ist die Personalisierung des Lernens bereits fest etablierter Bestandteil des Lernalltags. An anderen werden vermehrt Bemühungen unternommen, die notwendigen Prozesse für eine stärkere Einbindung personalisierten Lernens voranzutreiben. Obgleich es noch keine Evidenz oder Langzeitstudien über das Konzept personalisierten Lernens gibt, wird immer wieder betont, wie sich die Leistungen der Schüler:innen verbessert hätten. Gerade Schulen, die mit einem erhöhten Grad an Diversität innerhalb ihrer Schülerschaft konfrontiert sind, versprechen sich viel vom Einsatz personalisierten Lernens. Im Zuge der Personalisierung des Lernens fällt auf, dass dem Thema der Datenerfassung, -sammlung und -analyse (Learning Analytics) nur wenig Beachtung geschenkt wird. Oftmals steht nur die reine Datenvisualisierung von Lernergebnissen im Mittelpunkt des Interesses. Über das tatsächliche Ausmaß und Qualität der Datenerfassung im Kontext digital gestützten Unterrichtes können wir dahingegen nur Mutmaßungen anstellen. Es ist schlichtweg nicht transparent, welche Daten im Rahmen digitalbasierten Lernens tatsächlich erfasst und analysiert werden. Auch bleibt oftmals für die Lehrenden unklar, welchen Nutzen sie aus den generierten Daten ziehen sollen. So fasste einer unserer Gesprächspartner diesen Umstand treffend zusammen: „Wir haben heute zwar einen Datenreichtum, leiden aber dafür an Informationsarmut.“

Leuchtturmprojekte auf dem Prüfstand

Dieser Eindruck verstärkt sich auch in anderen Gesprächen. Damit stellen wir eine deutliche Diskrepanz innerhalb des europäischen Diskurses fest, wenn es um die Darstellung US-amerikanischer Schulen im Kontext von Digitalisierung und Datensouveränität geht. Die in der Literatur und in Fachvorträgen oft angeführten digitalen Leuchtturmprojekte an US-amerikanischen Schulen wurden von unseren amerikanischen Gesprächspartnern als futuristische Fiktionen bezeichnet, die für einen Großteil von ihnen in den kommenden Jahren nicht zu realisieren sind. Zudem beobachten wir, dass eine anfängliche Euphorie über die Möglichkeiten, digitale Elemente in den Unterricht zu integrieren, heute auch in den USA mit kritischem Abstand betrachtet wird. Projektschulen wie die in San Francisco angesiedelte Alt School, die hyperdigitale Lernkonzepte versprechen, geraten zunehmend in die Kritik und verzeichnen abnehmende Schülerzahlen mit dem Ergebnis, dass einige dieser Schulen heute bereits wieder geschlossen sind. Aber auch der Einsatz von Lernapplikationen im Unterricht wird zunehmend unter dem Aspekt von Datenschutz hinterfragt. So haben wir erfahren, dass EdTech-Beauftragte heute vermehrt Aufklärungsarbeit über die Risiken personenbezogener Datenfreigaben in ihren Schulen leisten müssen und Schüler:innen wie Lehrer:innen für einen reflektierten Einsatz entsprechender Applikationen sensibilisieren. Auffällig ist dabei, dass, wie auch in Deutschland, keine zentralen Plattformen existieren, die entsprechende Applikationen und digitale Lernangebote nach datenschutzrechtlichen oder pädagogischen Kriterien einstufen. Oftmals sind es die EdTech-Beauftragten der Schulbezirke und Schulen, die in mühevoller Arbeit die individuellen Datenschutzbestimmungen der einzelnen Anbieter durcharbeiten, um Lehrer:innen und Schüler:innen vor einem potenziellen Missbrauch ihrer personenbezogenen Daten zu schützen. Mehrfach wurde in Diskussionsrunden über Datenschutz auf Europa als Vorbild verwiesen. Die Komplexität dieser Debatten erhöht sich in den USA durch spezielle rechtliche Besonderheiten, wie zum Beispiel den Children’s Internet Protection Act (CIPA), der Überwachungssystemen wie Gaggle eine Berechtigung einräumt und den Diskurs um die ethische Perspektive erweitert.

Harker School in San José

Ein besonders inspirierendes Gespräch konnten wir an der Harker School, einer in San José gelegenen Privatschule, mit Jennifer Gargano führen. Die Co-Direktorin beschäftigt 250 Lehrer:innen und bildet über 2000 Schüler:innen aller Altersstufen aus. Als die Harker School vor gut 20 Jahren auf den Zug der Digitalisierung aufsprang, war Gargano noch Mathematiklehrerin. Damals bestand die Digitalisierungsstrategie vor allem noch in der Anschaffung von Technik. Da die finanziellen Mittel ausreichten, konnte bald allen Schüler:innen ein Computer zur Verfügung gestellt werden. In der Folge sah sich die Schule jedoch zunehmend mit der Frage konfrontiert, wie der Einsatz dieser Geräte einen pädagogischen Mehrwert ermöglichen könnte. Diese Frage bestimmt bis heute das Verhältnis der Schule zu digitalen Technologien, was zu sehr organischen Prozessen der Adaption geführt hat.

Unter den Lehrenden wurden mit der Zeit neue Positionen geschaffen. So besteht die Hauptaufgabe der Directors of Learning, Innovation and Design darin, Lehrer:innen bei der Implementierung von neuen Technologien in ihren Lehralltag zu unterstützen.  Bewährt sich eine Anwendung in einer ersten Testphase, werden die Tests skaliert und auf verschiedene Klassen und ggf. auch Jahrgangsstufen ausgeweitet. Über dieses Verfahren hat bereits eine neue Vokabel-App Einzug in die Schule erhalten, die mittlerweile in der ganzen Mittelstufe verwendet wird. Darüber hinaus bilden die Directors of Learning, Innovation and Design auch eine Schnittstelle sowohl zur schulinternen IT als auch zu externen Technologieanbietern. Ihre Rolle ist historisch mit den Herausforderungen der Schule gewachsen. Anfangs hießen sie noch Assistant Director of Instructional Technology, waren eng mit der IT verbunden und noch nicht auf jedem Schulcampus vertreten. Während ihr Arbeitsschwerpunkt anfangs noch auf technologischen Aspekten lag, rückten mit der Zeit zunehmend pädagogische Fragestellungen in den Mittelpunkt. Inzwischen verfügt jeder Campus der Harker School über einen eigenen Director.

Die Frage nach dem pädagogischen Mehrwert digitaler Technologien brachte auch eine anhaltende Evolution der Lernkultur mit sich. An der Harker School werden Lehrer:innen bewusst dazu ermutigt, sich untereinander und über die Grenzen der Schule hinaus auszutauschen und voneinander zu lernen. Zu diesem Zweck richtet die Harker School jährlich eine Konferenz aus, gesponsert und mitausgerichtet von einer Nonprofitorganisation für den Einsatz von Technologie in der Lehre. Im Alltag werden die Lehrer:innen angehalten, bei technischen Herausforderungen auch auf die Kompetenzen der Schüler:innen zu vertrauen, zum Beispiel wenn keine Kenntnis eines bestimmten Betriebssystems vorliegt. Bei Bedarf gibt es aber auch technischen Support in Form eines Helpdesks. Obwohl die Harker School durchaus als Leuchtturmprojekt einer Hightech-Schule gesehen werden kann, betont Gargano das hohe Grundniveau der Lehre, das bei der sprachlichen und musisch-künstlerischen Ausbildung der Schüler:innen genauso maßgebend ist wie beim verbindlichen Informatikunterricht. Dieser universelle Ansatz entspricht auch den Vorstellungen der Eltern, die vielfach selbst mit den in der Region ansässigen Tech-Konzernen verbunden sind. Der Schule gehe es um eine ganzheitliche Ausbildung, in der soziale und technische Kompetenzen gleichermaßen gefördert werden. Zwar gibt es eine umfassende technologische Ausstattung wie einen digitalen Anatomie-Tisch, iPads für die unteren Lernstufen, Laptops für alle älteren Schüler:innen, Smartboards sowie einen verbindlichen Informatikunterricht. Die Technologie stellt aber keinen Selbstzweck mehr da, wie noch vor 20 Jahren. Radikale Umbrüche sucht man deshalb vergebens. Insgesamt macht die Harker School auf uns den Eindruck, als lasse man sich nicht davon verunsichern, was die Zukunft bringen könnte. Man vertraut auf seinen inneren Kompass und ein starkes pädagogisches Konzept mit einem breit gefächerten Curriculum.

EdTech – Driven by the How

Die Interviews an verschiedenen Schulen in Florida und Kalifornien haben uns deutlich gemacht, dass die Digitalisierung der Bildung auch mit einer neuen Generation von Schüler:innen einhergeht, die andere Anforderungen haben. Die Art, wie Schüler:innen heutzutage denken, kommunizieren und zusammenarbeiten, hat sich grundlegend verändert. Für diese Generation ist es selbstverständlich, Arbeiten und Probleme digital gestützt zu eruieren. Trotzdem fehlt es weiterhin an Evidenz über den Erfolg von digital-basierten Lösungen im Unterricht. US-amerikanische Schulen fokussieren vielmehr weiterhin die Frage, welche (neuen) Technologien im Unterrichteingesetzt werden sollen. Hier sehen wir Parallelen zum europäischen Bildungsmarkt. Die Schnittmenge aus der Trias Pädagogik, Technologie und Inhalte bringt bereits zielführende und vielversprechende EdTech-Lösungen für Lehrende und Lernende hervor. Leider vermissen wir in der aktuellen Debatte – gerade in Bezug auf die fehlende Evidenz – eine stärkere Auseinandersetzung mit der Frage, warum solche Technologien überhaupt im Unterricht eingesetzt werden sollen und wie ein solcher Einsatz unter pädagogischen Gesichtspunkten gestaltet werden soll. „EdTech – Driven by the how!“ – ist während unseres USA-Aufenthalts zu unserem Leitsatz geworden und sollte alle Akteure im Bildungsbereich zu mehr Verantwortungsbewusstsein und gesellschaftlicher Reife anspornen, denn das technisch Machbare ist längst nicht mehr die zentrale Frage.