
Fünf Jahre nach Corona – Rückblick auf eine Krise, die vieles sichtbar machte
12.06.2025Im Frühjahr 2020 erfasste die Corona-Pandemie die Welt – mit massiven Auswirkungen auf Arbeit, Gesundheit, Öffentlichkeit und politische Entscheidungsprozesse. Die Krise warf drängende wissenschaftliche, soziale und ethische Fragen auf.
Fünf Jahre nach der Pandemie blicken wir gemeinsam mit drei Forschenden des Weizenbaum-Instituts zurück: Clara Iglesias Keller, Florian Butollo und Maximilian Heimstädt erinnern sich an ihre damaligen Überlegungen, diskutieren, welche Themen auch heute noch nachwirken – und was Gesellschaft und Wissenschaft aus dieser Zeit gelernt haben.
Lassen Sie uns mit einem Blick zurück beginnen: Welche Fragen gingen Ihnen zu Beginn der Pandemie durch den Kopf?
Florian Butollo: Für mich stellten sich gleich mehrere Fragen. Zum einen: Wird durch die Pandemie ein allgemeiner Digitalisierungsschub ausgelöst? Wenn ja – wie ist dieser begründet, und wo zeigt er sich am deutlichsten? Dann interessierte mich, ob sich durch die Pandemie die Räumlichkeit von Arbeit verändert – Stichwort: bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben. Aber auch: Verändert mobiles Arbeiten die Wahl des Wohnorts? Und ganz zentral war für mich die Frage: Entstehen neue Ungleichheiten durch veränderte Arbeitspraktiken? Und nicht zuletzt: Kommt es zu einer Restrukturierung globaler Lieferketten, vielleicht sogar zu einem Ende der Globalisierung?
Maximilian Heimstädt: Ich bin da mit einem anderen Fokus herangegangen. Was mir früh auffiel, war der plötzliche Bedeutungsgewinn von Preprints. Dieses Format – also die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, die noch nicht begutachtet sind – war außerhalb der Wissenschaft vorher kaum bekannt. Auf einmal aber wurde es breit diskutiert. Ich fragte mich: Was bedeutet das für das gesellschaftliche Verständnis von Wissenschaft – und für das Vertrauen in wissenschaftliches Wissen?
Clara Iglesias Keller: Für mich hingegen war besonders relevant, wie digitale Infrastrukturen ausgeweitet wurden – etwa durch den Einsatz von Technologien zur Kontaktverfolgung. Da ging es um zentrale vs. dezentrale Lösungen, um das Spannungsverhältnis zwischen Überwachungsrisiken und der Notwendigkeit, Infektionen zu senken. Ich arbeitete damals mit meiner Kollegin Lena Ulbricht an einem Projekt zu sieben lateinamerikanischen Ländern, in dem wir untersuchten, wie diese Kontaktverfolgungssysteme umgesetzt, reguliert und verhandelt wurden. Teils wurden hohe Geldsummen investiert – in Maßnahmen, die dann von der Bevölkerung kaum angenommen wurden und entsprechend wenig wirksam waren. Zugleich stellte sich mir die Frage, ob sich durch die Pandemie eine neue digitale Überwachungsinfrastruktur etabliert – insbesondere mit Blick auf die Machtkonzentration in den Händen staatlicher oder privater Akteure.
Florian Butollo: Ja, die Pandemie hat bestehende Ungleichheiten noch sichtbarer gemacht – auch im Hinblick darauf, wer überhaupt mobil arbeiten konnte. Schließlich war das für viele nicht möglich. Gleichzeitig wurde sichtbar, wie abhängig unsere Gesellschaft von Berufen ist, die wenig gesellschaftliche Anerkennung erhalten. Pflegekräfte, Kassierer:innen, Beschäftigte in der Logistik – das sind systemrelevante Tätigkeiten, aber die Bedingungen für diese Gruppen haben sich bis heute kaum verbessert.
Maximilian Heimstädt: Ich fand es auch spannend – und irritierend –, wie rasch sich die Öffentlichkeit auf wissenschaftliche Inhalte eingelassen hat. Der Vorhang, hinter dem sich wissenschaftliche Praxis und Debatte meistens abspielt, wurde ein Stück weit gelüftet. Forschende erklärten öffentlich, wie Wissen entsteht – das war neu. Gleichzeitig wurde deutlich, wie flüchtig dieses Interesse sein kann. Heute ist das Thema Preprints wieder mehr in den Hintergrund getreten.
Clara Iglesias Keller: Ja, auch die große Aufmerksamkeit für digitale Überwachungsmaßnahmen, die in der Anfangszeit der Pandemie ja breit diskutiert wurden, ist ebenfalls weitgehend verschwunden. Und doch sind einige dieser Technologien bis heute im Einsatz – oft, ohne dass wir als Gesellschaft bewusst entschieden hätten, ob wir das wollen. Zugleich wurde sichtbar, wie schlecht viele Verwaltungen vorbereitet waren. Das ist ein strukturelles Problem, das nach wie vor besteht.
Welche Ihrer damaligen Annahmen haben sich im Rückblick bewahrheitet – und welche eher nicht?
Florian Butollo: Die Frage nach dem Digitalisierungsschub wurde von uns später sehr differenziert untersucht. Es zeigte sich: Die Pandemie führte vor allem zu einer Virtualisierung der Kommunikation – aber weniger zu einem tiefgreifenden technologischen Wandel, etwa in der Industrie. Auch die Vorstellung, dass sich durch mobiles Arbeiten das Verhältnis von Stadt und Land grundlegend verschieben würde, hat sich nur begrenzt bestätigt. Die meisten Tätigkeiten erfordern weiterhin physische Präsenz – eine vollständige Entkopplung von Wohn- und Arbeitsort ist eher selten.
Maximilian Heimstädt: Auch mein damaliges Forschungsinteresse hat sich rückblickend als erkenntnisreich erwiesen – wenn auch das Phänomen flüchtig war. Die Rolle von Preprints in der öffentlichen Debatte war sehr präsent – aber sie hat nach der Pandemie wieder stark abgenommen. Dennoch war es wichtig zu beobachten, wie Wissenschaft in der Krise sichtbarer wurde.
Clara Iglesias Keller: Ich hatte ursprünglich befürchtet, dass der Zugang zu öffentlichen Räumen langfristig politisch eingeschränkt bleiben könnte. Rückblickend bin ich froh, dass sich diese Prognose nicht bewahrheitet hat. Ein Themenfeld, das mich seitdem beschäftigt und nicht an Relevanz verloren hat, ist die Digitalisierung öffentlicher Verwaltungen und die Rolle, die private Akteure dabei spielen.
Was können Wissenschaft und Gesellschaft aus dieser Zeit mitnehmen?
Florian Butollo: Eine zentrale Lehre ist für mich, dass die Daseinsvorsorge ein elementarer Bestandteil unserer Gesellschaft ist – und gestärkt werden muss. Auch ist das mobile Arbeiten zu einem relevanten Kriterium im Wettbewerb um Fachkräfte geworden, mit dem Unternehmen sich auseinandersetzen müssen – ob sie wollen, oder nicht. Hier haben sich die Arbeitsgewohnheiten tatsächlich deutlich verändert. Dennoch haben sich viele Erwartungen an einen radikalen Wandel nicht bestätigt. Selbst so einschneidende Ereignisse wie die Pandemie haben oft weniger radikale Folgen, als man zunächst denkt.
Maximilian Heimstädt: Ich glaube, die Wissenschaft hat in der Pandemie gelernt, dass sie der Öffentlichkeit tiefere Einblicke in ihre Prozesse zumuten kann – und sollte. Die Gesellschaft wiederum hat gelernt, dass wissenschaftliche Erkenntnis ihre eigene Zeitlichkeit hat. Das Beispiel der Preprints hat hier geholfen, Orientierung zu geben.
Clara Iglesias Keller: Für mich war die Pandemie kein Neuanfang, sondern ein Ausnahmezustand, der bestehende Schwächen und Machtverhältnisse offenlegte. Sie hat gezeigt, wie wichtig zivilgesellschaftliche Solidarität ist – aber auch, wie stabil die übergeordnete Weltordnung bleibt. Vielleicht liegt genau darin die wichtigste Erkenntnis: dass wir nicht auf die nächste Krise warten sollten, um strukturelle Veränderungen anzugehen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Florian Butollo ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Digitale Transformation und Arbeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Teil der Forschungsgruppe „Arbeiten mit Künstlicher Intelligenz“.
Maximilian Heimstädt ist Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Digital Governance & Service Design, an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Er ist außerdem assoziierter Forscher am Weizenbaum-Institut, wo er von 2020 bis 2024 die Forschungsgruppe „Reorganisation von Wissenspraktiken“ leitete.
Clara Iglesias Keller ist Rechtswissenschaftlerin und arbeitet zu den Schwerpunkten digitale Technologien und Medienregulierung. Sie ist Leiterin der Forschungsgruppe „Technik, Macht und Herrschaft“ am Weizenbaum-Institut.
Das Interview führte Moritz Buchner