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Freiheit und Digitalisierung: War früher mehr Individuum?

Die dritte Weizenbaum Debate am Berliner Kriminaltheater drehte sich um eine der drängendsten Fragen unserer Zeit: Wie beeinflusst die Digitalisierung unsere Freiheit? Eröffnet sie neue Möglichkeiten der individuellen Entfaltung oder schafft sie subtile Zwänge, die unsere Autonomie bedrohen?

In einer engagierten Debatte trafen Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Clubs und Informatikerin, und Mathias Richel, Gründungsvorsitzender des Digitalvereins D64 und Kommunikationsberater, aufeinander, um aus unterschiedlichen Perspektiven über die Wechselwirkungen von Digitalisierung, Freiheit und Individualität zu debattieren.

Der Rahmen: Freiheit denken und diskutieren

Moderator Sascha Friesike, Vorstandsmitglied und Direktor am Weizenbaum-Institut, schlug zu Beginn einen Bogen zwischen dem Thema des Abends und dem Veranstaltungsort. Auf der Bühne des Berliner Kriminaltheaters werden Spannungen und Konflikte verhandelt – oft mit einem Drang zur Wiederherstellung von Ordnung. Eine ähnliche Versuchsanordnung könne auch im Hinblick auf das Thema des Abends gewagt werden.

Friesike half dem Publikum, den abstrakten Begriff der Freiheit greifbarer zu machen, indem er die Unterscheidung zwischen negativer Freiheit („Abwesenheit von Zwang“) und positiver Freiheit („Fähigkeit, selbstbestimmt zu handeln“) einbrachte. Diese Unterscheidung diente als Orientierung für die Diskussion über die beiden zentralen Thesen des Abends.

These 1: Digitale Zwänge und verlorene Autonomie

Die erste These lautete: „Die Digitalisierung schränkt unsere negative Freiheit ein, da sie unsichtbare Zwänge schafft, die unser Verhalten lenken und die Autonomie des Individuums untergraben.“

Constanze Kurz betonte die Macht privater Akteure und staatlicher Überwachung. Sie verwies auf oligopolistische Strukturen wie die Dominanz von IOS und Android im Smartphone-Markt, die Nutzer:innen in feste Systeme zwängen. Auch Plattformen wie TikTok und Facebook prägen durch manipulative Geschäftsmodelle unser Verhalten. Daten werden zur Währung einer scheinbaren Kostenfreiheit, wobei Autonomie und Gestaltungsmacht verloren gehen. „Man kann nur so frei sein, wie man auch frei gestalten kann,“ so Kurz, und genau diese Gestaltungsmöglichkeiten sieht sie bedroht.

Mathias Richel zog einen persönlichen Vergleich: Aufgewachsen in Ostdeutschland nach der Wende, erlebte er Freiheit einerseits als Verheißung, zugleich fühlte er Bedrohungen – wie z.B. durch sozialen Abstieg oder die Angst vor Neonazis, die zu einer mehr oder weniger bewussten Anpassung seines Verhaltens führten. Ähnliche Mechanismen sieht er in der Digitalisierung am Werk: Plattformen strukturieren unser Leben effizient und möglichst relevant, aber eben oft auf Kosten der Wahlfreiheit. Hinzu kommt: „Wir passen unser Verhalten an, weil wir wissen, dass wir beobachtet werden“, wie er am Beispiel der Smart Cities und der algorithmischen „Optimierung“ ausführte.

Im anschließenden Gespräch stellten beide heraus, dass sie beide die Digitalisierung durchaus positiv sehen. Für Kurz jedoch kommt die Frage, wie wir Technik gestalten wollen, zu kurz, die wichtigen digitalpolitischen Themen würden auf Bundesebene kaum noch kompetent diskutiert. Richel hingegen lenkte den Blick auf die Nachteile, die man erst sieht, wenn man schon zu tief drinsteckt: z.B. der Verlust von Graustufen auf Plattformen, deren Algorithmus das schwarz/weiß befördert oder die Normalisierung von digitalem Stalking.

These 2: Positive Freiheit, aber um welchen Preis?

Die zweite These lautete: „Die Digitalisierung fördert unsere positive Freiheit, doch sie führt gleichzeitig zu einer kulturellen Homogenisierung, die individuelle Vielfalt gefährdet.“

Richel lobte die Demokratisierung von Produktionsmitteln und Bildung durch digitale Technologien, warnte jedoch vor deren Kehrseite: Algorithmen verstärken bestehende Präferenzen und führen zu einem „Mainstreaming“. Er kritisierte auch, dass kreative Prozesse durch generative KI Gefahr laufen, lediglich Bekanntes zu reproduzieren. Subkulturen und individuelle Vielfalt könnten so unter der Effizienzlogik verschwinden.

Kurz ergänzte, dass Manipulation ein integraler Bestandteil vieler Plattformen ist. Am Beispiel von TikTok zeigte sie, wie Algorithmen nicht nur Inhalte priorisieren, sondern auch vorschreiben, welche Arten von Interaktionen überhaupt möglich sind. Sie forderte ein Umdenken in der Regulierung, um nicht nur Datenschutz, sondern auch Vielfalt und Selbstbestimmung zu schützen.

Ausblick: Gestaltung der digitalen Zukunft

Beide Speaker:innen betonten, dass die Gestaltung der Digitalisierung nicht den Plattformbetreibern allein überlassen werden darf. Sie forderten unter anderem:

  • Mehr Transparenz bei algorithmischen Systemen
  • Eine strikte Regulierung von Überwachung und manipulativen Praktiken
  • Förderung von Anonymität im Netz
  • Förderung von Vielfalt und Diversität, auch bei Algorithmen und Künstlicher Intelligenz
  • Gezielte Förderung von alternativen Plattformen
  • ein EU-weites Trackingverbot

Richel hob hervor, dass trotz individueller Anstrengungen – wie der Nutzung nicht-kommerzieller Alternativen – die Macht bei den Plattformbetreibern bleibt, solange keine umfassende Regulierung erfolgt. Kurz wies auf die DSGVO und den Digital Services Act als erste Schritte hin und betonte, dass auch im Hinblick auf die umstrittene Chatkontrolle die Zivilgesellschaft erfolgreich Widerstand geleistet hat.

Fazit: Freiheit braucht Engagement

Die dritte Weizenbaum Debate zeigte eindrücklich, wie komplex das Verhältnis zwischen Digitalisierung, Freiheit und Individualität ist. Während Technologien neue Möglichkeiten schaffen, droht zugleich die Gefahr subtiler Zwänge und kultureller Gleichmacherei. Die Debatte verdeutlichte, dass Freiheit im digitalen Zeitalter keine Selbstverständlichkeit ist, sondern einer aktiven Gestaltung und politischen Regulierung bedarf.

Während die Frage „War früher mehr Individuum?“ offen bleiben musste, so wurde doch klar: Ohne politisches Engagement könnte die Antwort bald „Ja“ lauten.