Die Coronakrise als Katalysator für die Digitalisierung von Bildungsprozessen
Ein Bericht von Dr. Gergana Vladova und Dr. André Renz
Das Coronavirus und gleichermaßen auch die Angst davor haben innerhalb weniger Wochen dazu geführt, dass das öffentliche Leben in vielen Ländern bereits massiv eingeschränkt wurde – mit steigender globaler Tendenz. Nach China, Südkorea und dem Iran breitet sich das Virus inzwischen auch in Europa und Deutschland aus. Solche unvorhergesehenen Ereignisse, die tiefgreifende Konsequenzen auf unseren Alltag und unser Handeln haben, bergen eine Menge mehr als nur Gefahren – sie bringen auch Chancen zur Weiterentwicklung mit sich.
Zu den ersten Maßnahmen gegen eine Verbreitung des Virus gehört unter anderem die Schließung von öffentlichen Institutionen wie Schulen und Universitäten, an denen Verdachtsfälle gemeldet wurden. Bundesweit sind davon immer mehr Schulen betroffen. Somit ist die Lehre und Wissensvermittlung in Präsenzveranstaltungen, wie wir sie traditionell kennen, nicht mehr möglich. Noch vor zehn Jahren hätte eine solche Situation den Lehrbetrieb nahezu außer Gefecht gesetzt, was Bildungseinrichtungen vor große Herausforderungen bei der Wiederaufnahme und Organisation der Lehre gestellt hätte. Für Schüler:innen und Studierende (und ihre Familien) wären damit Unsicherheiten und ein erheblicher Planungsaufwand ihres Alltags verbunden gewesen.
Dr. Gergana Vladova und Dr. André Renz forschen am Weizenbaum-Institut, wie sich die Digitalisierung auf Bildungsprozesse auswirkt.
Unser Alltag heute ist geprägt von digitalen Technologien und High-Speed Internet und bietet zumindest in der Theorie alle Voraussetzungen dafür, den sicheren, schnellen und reibungslosen Austausch von Daten, Informationen und Wissen ort- und zeitunabhängig durchzuführen.
Vergleichbare Krisen haben in der Vergangenheit (SARS-Epidemie) Länder wie China bereits einmal auf die Probe gestellt und erste Strategien entwickeln lassen, durch die Nutzung dieser Technologien den Lehrbetrieb online zu ermöglichen. Was ihre Erfahrung lehrt, ist für uns von großem Wert – denn es hat sich gezeigt, dass neben der technischen Infrastruktur auch weitere Faktoren gleichermaßen entscheidend sind für den Erfolg dieser Überbrückung der Schwelle zwischen der realen und der digitalen Realität. Dazu gehören vor allem Bereitschaft und Flexibilität von Lehrenden und Lernenden, sich auf eine solche Umstellung einzulassen und neue Formate auszuprobieren sowie auch die Unterstützung seitens der Politik und die Gewährleistung der passenden organisationalen Rahmenbedingungen.
Was wir zurzeit im Zuge der aktuellen Ereignisse in einigen Ländern beobachten, ist die vermehrte Förderung alternativer Formen des Unterrichts, was mit einer deutlich intensiveren, bisweilen transformativen Nutzung von Online-Medien verbunden ist. Ob dies langfristig beibehalten wird, bleibt jedoch zu bezweifeln. Ungeachtet dessen ergeben sich daraus erhebliche Chancen für die Digitalisierung der Lehre. Die bisher optionale und supplementäre Anwendung online-basierter Lehrformate wird plötzlich obligatorisch und substituierend. Damit entstehen echte Berührungspunkte und Möglichkeitsräume für alle Akteure im Bildungssystem, die nachwirken. Bezugnehmend auf die Entwicklung und den Einsatz von Bildungstechnologien – im Speziellen der Onlinelehre – werden solche Erfahrungen im Zusammenhang mit Epidemien als sogenannte Tipping Points bezeichnet, welche die Funktion von Katalysatoren annehmen können. Zudem haben uns frühere Krisen unterschiedlicher Natur in verschiedenen Regionen der Welt gelehrt, dass Wachsamkeit und Flexibilität essentiell für unsere Bildungsplanung sind. Wachsamkeit, um sicherzustellen, dass gerade Kinder nicht zu lange vom Lernen ferngehalten werden, und Flexibilität, damit sie sich schnell und effektiv an das Unerwartete anpassen können.
Im Rahmen unseres Forschungs- und Transferauftrages am Weizenbaum Institut richten wir den Blick nun auf Europa und Deutschland. Vor dem Hintergrund der Ausbreitung des Coronavirus haben die Bemühungen, den Ausbau der digitalen Infrastruktur von Schulen und im weiteren Sinne von Gemeinden voranzutreiben, den Charakter von Investitionen zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit unseres Bildungssystems gegen große Krisen/Schocks. Daraus ergeben sich eine Vielzahl spannender und zugleich kritischer Impulse, die wir wissenschaftlich wie auch anwendungsorientiert, aber auch im Dialog mit einschlägigen Akteuren und der Zivilgesellschaft gemeinsam eruieren werden.
Um diese und weitere aktuelle Fragen zu beantworten, haben wir im ersten Schritt mit Forschungs- und Kooperationspartner:innen aus Hong Kong, Wuhan, Peking und Berlin Interviews durchgeführt. In den ersten Gesprächen mit Schulen wurde deutlich, dass sich der Möglichkeitsraum einer volldigitalisierten Lehre von totaler Ohnmacht bis zu sofortiger Einsatzbereitschaft erstreckt. Diese Diskrepanz resultiert unter anderem aus der ungleichen IT-Infrastruktur in den jeweiligen Ländern, aber auch aus den Kompetenzprofilen und der Souveränität der Lehrkräfte im Umgang mit dem Einsatz digitaler Lehrmethoden. Ungeachtet dieser Tatsachen konstatierten alle Gesprächspartner:innen, dass die aktuellen Bemühungen, auf Onlinelehre auszuweichen, nur ein erster Schritt sei könne, der letztlich nur grundlegende Anwendungen erlaube, aber aufgrund des plötzlichen Einsetzen der Krise keinen Raum für ausgereifte Gesamtkonzepte und Methoden zulasse.
Darüber hinaus erfassen wir im Rahmen einer aktuellen Umfrage das Stimmungsbild unter Universitätslehrenden hinsichtlich der Möglichkeit und der tatsächlichen Bereitschaft, den Lehrbetrieb in kurzer Zeit vollständig online-basiert durchzuführen. In diesem Zusammenhang fragen wir auch nach möglichen Stellschrauben, Herausforderungen und Erwartungen. Die ersten 200 ausgewerteten Antworten zeigen unter anderem, dass die Mehrheit der Befragten die Krise als Chance versteht, den Einsatz digitaler Techniken in der Lehre vermehrt zu fördern. Gleichzeitig wird aber die Akzeptanz der Lehrenden für digitale Lernmethoden als eine große Herausforderung angesehen und ihre gezielte Kompetenzentwicklung als zwingende Notwendigkeit. Einer unserer Interviewpartner in Wuhan hat die aktuelle Situation treffend beschrieben: „Wir befinden uns zurzeit mitten im vielleicht größten Experiment zur Onlinelehre.“