
Verschwörungstheorien besser verstehen mit dem Neovex-Forschungsverbund
Wie funktionieren Verschwörungstheorien, wie werden sie von Rechtsextremen eingesetzt und welche Rolle spielen Plattformen bei ihrer Verbreitung? Nach drei Jahren Forschung stellen Weizenbaum-Wissenschaftler:innen ihre Ergebnisse vor.
Corona-Leugnung, QAnon oder „Der große Austausch“ – durch globale Krisen und gesellschaftliche Polarisierung gewinnen Verschwörungstheorien zunehmend an Einfluss und verbreiten sich oft in Verbindung mit rechtsextremen Ideologien. Digitale Plattformen fungieren dabei als Katalysatoren, auf denen rechte Akteure gezielt Desinformation einsetzen, um Anhänger:innen zu mobilisieren und politische Agenden voranzutreiben. In Zeiten, in denen rechtsextreme Bewegungen zunehmend Wahlerfolge erzielen, digitale Gegenöffentlichkeiten aufbauen und gesellschaftliche Diskurse immer stärker beeinflussen, lohnt sich ein genauer Blick auf das Phänomen der Verschwörungsnarrative – ihren Einsatz und ihre Funktion in einer vernetzten Gesellschaft.
Der Forschungsverbund Neovex widmete sich über drei Jahre hinweg der Untersuchung dieser Dynamiken. Vier Teilprojekte analysierten die Entstehung und Verbreitung von Verschwörungstheorien sowie rechtsextremen Ideologien, ihre strategische Verbreitung auf digitalen Plattformen und in der Gesellschaft sowie die Rolle sozialer Medien und Plattformregulierungen. Beim Projektabschluss im Dezember 2024 präsentierten die Forscher:innen, darunter Wissenschaftler:innen des Weizenbaum-Instituts und der Freien Universität Berlin, ihre Ergebnisse.
Janina Pawelz und Stephen Albrecht, Forscher:innen vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg, analysierten die Verschwörungs-Szene, ihre Akteure sowie deren Narrative und Funktionen. Die soziale Netzwerkanalyse dieses Teilprojekts ergab, dass die Szene zwar relativ überschaubar ist, jedoch wirtschaftlich voneinander abhängig und äußerst aktiv. Sie umfasst sogenannte „Reichsbürger“, die rechtsextreme Szene sowie auch den Kanal RT Deutsch. Unterschiedliche Akteure übernehmen dabei verschiedene Rollen, die vom Forschungsteam als Kronzeugen, Expertinnen oder Vernetzer beschrieben werden.
Die Wissenschaftler:innen untersuchten zudem die historische Dimension von Verschwörungstheorien. Sie analysierten jahrhundertealte Erzählungen über Ritualmordlegenden und Hexenverfolgung und verglichen diese mit den Manifesten rechtsradikaler Attentäter, um wiederkehrende Muster zu identifizieren. Die Inszenierung einer Bedrohungslage zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Die Bedrohung von Leben oder der gewohnten (Welt-)Ordnung wurde bereits seit 1550 genutzt, um Anhänger:innen zu mobilisieren, Gewalt zu rechtfertigen oder zu propagieren. Gesellschaftliche Krisen spielten hierbei eine zentrale Rolle, so Pawelz und Albrecht. Verschwörungstheorien erfüllen eine psychosoziale Funktion, indem sie Menschen in Zeiten von Kontrollverlust Sicherheit, Verständnis und Handlungsfähigkeit vermitteln. Auch die Schaffung von Feindbildern ist von großer Bedeutung – stets wird zur Taktik der Entmenschlichung gegriffen, und diese Feinde als unmoralisch und hinterlistig dargestellt. Zur Legitimation der Bedrohung werden religiöse Schriften und Augenzeugen herangezogen, die als besonders vertrauenswürdig gelten.
Wissenschaftler:innen der Hochschule für Politik der Technischen Universität München untersuchten die Verbreitung von Verschwörungstheorien auf Online-Plattformen, insbesondere durch nicht-authentisches Nutzerverhalten – kurz: Bots – auf X/Twitter. Die Analyse des Münchner Teams ergab zwar nicht-authentisches Nutzerverhalten im Kontext der Covid-Pandemie, jedoch führte dies nicht zu einer größeren Reichweite oder höheren Viralität der jeweiligen Posts. Die Ergebnisse legen jedoch nahe, dass die Plattform X/Twitter gezielt die Reichweite bestimmter Themen oder Accounts drosselte.
Prof. Simon Hegelich betonte, dass beim Thema Desinformation weniger der Fokus auf Algorithmen liegen sollte. Vielmehr sollten politische Entscheidungen von Plattformen und ihr gezieltes Eingreifen in die algorithmische Verbreitung stärker analysiert werden.
Mit dieser Plattformpolitik setzte sich das Forscher:innenteam vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena auseinander. Maik Fielitz und Marcel Jaspers untersuchten die Entwicklung von Plattformregeln, wer darüber entscheidet und wie sie begründet werden. Laut Fielitz hat die Bedeutung von Plattformpolitik in den letzten Jahren zugenommen, und das Handeln der Unternehmen ist zunehmend politisiert worden.
Zwar unterscheiden sich die Moderationslogiken und Richtlinien der Plattformen weiterhin, doch ein Trend hin zu weniger sichtbaren Maßnahmen ist erkennbar. Mittlerweile gehe es verstärkt um Visibilitätsmanagement, so Fielitz. Anstatt Inhalte direkt zu löschen, wird ihre Reichweite reduziert. Die Moderationsregeln seien zudem weniger werteorientiert und spiegeln stattdessen einen Pragmatismus wider, der versucht, möglichst vielen Interessengruppen gerecht zu werden.
Ein weiteres Forschungsthema war die Reaktion bestimmter Akteure auf Moderationsregeln. Die Intransparenz hinsichtlich der Umsetzung dieser Maßnahmen führt zu einer Art „algorithmic folklore“, so Fielitz. Im Netz kursieren Tipps und Tricks, wie Sperrungen oder Drosselungen umgangen werden können. Zudem seien die Akteure sehr anpassungsfähig, was sich an der sprunghaften Nutzung verschiedener Plattformen zeigt.
Die Wissenschaftler:innen des Weizenbaum-Instituts und der Freien Universität Berlin untersuchten die Verbreitung von Verschwörungstheorien über verschiedene Plattformen hinweg. Prof. Dr. Annett Heft, Dr. Kilian Bühling und Xixuan Zhang analysierten die Narrative „New World Order“ und „White Genocide“ und verfolgten deren Weg von alternativen Plattformen wie 4Chan oder Reddit zu Mainstream-Plattformen wie X/Twitter, zu Alternativmedien wie Breitbart oder Compact sowie zu Leitmedien wie der Washington Post oder der Süddeutschen Zeitung. Sie untersuchten zudem, wie sich der Diskurs auf den jeweiligen Plattformen anpasst und verändert. Sie sprechen deshalb von plattformisierten Verschwörungstheorien, da Stil, Wortwahl, Toxizität und Emotionalität der Erzählungen stark von der Nutzer:innenkultur der jeweiligen Plattform geprägt sind. Ob Verschwörungstheorien in den jeweiligen Medien neutral, kritisch oder positiv besprochen wurden, floss ebenfalls in die Analyse mit ein. Während die Debatte auf X/Twitter gemäßigter verläuft als auf 4Chan, gibt es dort dennoch überraschend wenig Gegenrede zu rechtsradikalen Verschwörungsnarrativen. Alternativmedien sind hingegen stärker ereignisgetrieben und greifen Verschwörungstheorien besonders dann auf, wenn sie sich mit aktuellen Ereignissen verknüpfen lassen.
Die Analyse der Weizenbaum-Forscher:innen ergab, dass Verschwörungstheorien von 4Chan auf alle anderen Medien übergreifen. Von Reddit wandern sie in alternative Medien und Leitmedien. X/Twitter wird besonders durch Reddit und 4Chan beeinflusst, während Leitmedien verstärkt durch alternative Medien geprägt werden. Die Forscher:innen zeigten, dass 4Chan als eine Art Brutstätte für rechtsextreme Verschwörungstheorien fungiert, während Twitter und alternative Medien als Brücke zu den Leitmedien dienen. Über letztere erreichen diese Erzählungen schließlich die breite Öffentlichkeit.
Ein weiterer Fokus lag auf der grenzüberschreitenden Verbreitung von Verschwörungstheorien. Dazu wurden deutsch- und englischsprachige Reddit-Foren analysiert. Solche systemischen Verschwörungstheorien, wie die „New World Order“- oder die „White Genocide“-Theorie, bilden universelle Rahmen, die sich je nach Zeit und Kontext flexibel anpassen lassen, aber zugleich tief in kulturellen Strukturen verwurzelt sind. Die Analyse zeigte, dass die gleichen Themen in beiden Sprach-Communities mit ähnlicher Relevanz diskutiert wurden und auch die Bezugspunkte vergleichbar waren. Allerdings konnten keine direkten Spillover-Effekte zwischen den Gruppen festgestellt werden.
Die abschließende Podiumsdiskussion des Neovex-Verbunds befasste sich mit politischen Lösungsansätzen im Umgang mit Verschwörungsgruppen. Maik Fielitz und Prof. Dr. Annett Heft diskutierten mit der Publizistin Katharina Nocun, dem Journalisten und Rechtsextremismusexperten Andreas Speit und Stefan Uecker, Leiter des Referats für Wehrhafte Demokratie und Extremismusprävention im Bundesinnenministerium.
Alle Diskutant:innen betonten die Bedeutung politischer und medialer Bildung, doch Initiativen zur Stärkung dieser Bereiche benötigen eine verlässliche Finanzierung.
Auch eine pluralistische Medienlandschaft sowie seriöser Journalismus auf neuen Medienplattformen seien essenziell. Dennoch bleibe unklar, wem die Anhängerschaft rechtsextremer Politiker:innen letztendlich Glauben schenken wird.
Während Faktenchecks Ängste, die durch Verschwörungstheorien geschürt werden, nicht beseitigen können, würden sie dennoch ein wichtiges Signal senden, wie seriöser Diskurs aussehen sollte.
Letztlich sei die Offenlegung von Plattform-Algorithmen sowie eine strengere Regulierung sozialer Medien essenziell, da Plattformen eine zentrale Rolle bei der Monetarisierung und Verbreitung von Verschwörungstheorien spielen und bei politischen Übernahmen als Brandbeschleuniger fungieren können.
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Studie Buehling, K., Zhang, X., & Heft, A. (2025). Veiled conspiracism: Particularities and convergence in the styles and functions of conspiracy-related communication across digital platforms. New Media & Society, 0(0). doi.org/10.1177/14614448251315756
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Zur Projekt-Webseite: neovex-projekt.de
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Blog der Weizenbaum Forschungsgruppe "Dynamiken der digitalen Mobilisierung"
Dieser Bericht ist Teil des Fokus „Zusammenhalt in der Vernetzen Gesellschaft.“ Wissenschaftler:innen des Weizenbaum-Institutes geben in Interviews, Berichten und Dossiers Einblicke in ihre Forschung zu den verschiedensten Aspekten von digitaler Demokratie und digitaler Teilhabe. Mehr erfahren