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Civic-Tech-Forschung im internationalen Kontext: Einblicke aus Japan

07/29/2025

Weizenbaum-Wissenschaftlerin Dr. Andrea Hamm erforscht digitale Partizipationsformen in Europa und Asien, insbesondere die Gestaltung von Civic-Tech-Initiativen. Im Rahmen ihrer Forschung war sie sechs Monate an der Universität Tokio in Japan. Wir haben mit ihr über ihren Aufenthalt dort gesprochen.

Civic-Tech-Initiativen sind technologie-gestützte Projekte von und für die Zivilgesellschaft mit dem Ziel, bestimmte soziale oder ökologische Missstände zu adressieren und/oder in Dialog mit der Politik zu treten. Oft werden dafür offen verfügbare Ressourcen (z.B. Open Data und Open Source Software) genutzt bzw. bereitgestellt. Andrea Hamms besonderes Interesse gilt dabei herauszufinden, inwiefern Civic-Tech-Initiativen langfristig zu Gesellschaften beitragen können. Im Rahmen ihrer Civic-Tech-Forschung war sie als Project Associate Professor am Center for Spatial Information Science an der Universität Tokio in Japan.

Was hat dich persönlich an Japan als Forschungsstandort gereizt – gerade im Hinblick auf Civic Tech?

In Japan gibt es eine große und sehr gut organisierte Civic-Tech-Szene. Die Dachorganisation „Code for Japan“ bündelt viele digitale Projekte aus der Zivilgesellschaft sowie auch Projekte in Zusammenarbeit mit Hochschulen. Es gibt eine lebendige Community, die sich jährlich auf einem Summit trifft und spannende Zusammenarbeit mit der Politik auf verschiedenen Ebenen betreibt. Gleichzeitig gibt es eine zunehmend internationale Vernetzung zu bestimmten Themen – wie beispielsweise mit Taiwan und Korea.

Zwischen Japan und Deutschland gibt es einige Gemeinsamkeiten: Beide Länder gelten als große Industrienationen, ihre politischen Systeme sind ungefähr gleich alt, beide Länder teilen Werte wie Freiheit, Marktwirtschaft, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Beide sind führende Hightech-Nationen mit starken Exportindustrien. Außerdem gibt es ähnliche Herausforderungen in beiden Ländern, wie Fachkräftemangel, eine alternde Gesellschaft, Investitionen in Digitalisierung und Annäherung an die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen. Allerdings gibt es auch eine Reihe von Unterschieden, aber gerade hieraus kann man meiner Ansicht nach einiges von Japan lernen, zum Beispiel in den Bereichen digitale Bildung, Verkehr, Recycling, Katastrophenprävention und -management sowie Resilienz von Systemen.

Gab es bereits bestehende Kontakte oder Kooperationen mit der Universität Tokio?

Ja, ich arbeite schon seit mehr als fünf Jahren mit Yuya Shibuya von der Universität Tokio zusammen. Wir haben bereits gemeinsam einige Studien zum Thema Civic Tech durchgeführt (z.B. Shibuya et al. 2022 und Hamm et al. 2021). Seit 2023 organisieren wir zusammen eine Workshop-Serie zum Phänomen der Kurzlebigkeit von Civic-Tech-Initiativen. Yuya Shibuya war 2020 und 2022/23 auch als Research Fellow am Weizenbaum-Institut. Ich fühlte mich geehrt, als sie mich eingeladen hat, mich auf einen Forschungsaufenthalt an ihrer Universität in Japan zu bewerben.  

Wie unterscheidet sich die Forschungskultur in Japan von der in Deutschland?

Beide Länder legen großen Wert auf Spitzenforschung und internationale Forschungszusammenarbeit. Zugleich zeigen sich deutliche Unterschiede in den Rahmenbedingungen und Kulturen des wissenschaftlichen Arbeitens: In Japan wird die Forschung oft stärker von der Regierung und großen Unternehmen finanziert, während in Deutschland die Forschungsgelder oft über verschiedene Förderorganisationen und staatliche Programme verteilt werden. Dies führt in Japan zu einer stärkeren institutionellen Verzahnung von Wissenschaft und Industrie.

Ein markanter Unterschied liegt zudem in der jeweiligen Arbeitskultur: In Japan sind lange Arbeitszeiten, ausgeprägte Teamorientierung und deutlich hierarchische Strukturen prägend. In Deutschland hingegen wird eher eine individualisierte, selbstständige Arbeitsweise gepflegt bei verschiedenen Hierachietiefen.

Welche Schwerpunkte setzt die japanische Civic-Tech-Forschung aktuell? Gibt es Themen, die besonders im Fokus stehen?

Nach meinem Verständnis ist die Civic-Tech-Forschung in Japan erst im Begriff sich zu bilden. Ein erstes großes Forschungsprojekt ist die „Civic Tech Design Initiative (CTDI)“ an der Universität Tokio, die letztes Jahr gestartet ist. Weitere Arbeitsgruppen, die sich im Feld engagieren, sind an der Universität Nagoya und an der Waseda Universität angesiedelt. In Japan ist vor allem die praktische Umsetzung von Civic-Tech-Projekten durch zivilgesellschaftliches Engagement seit über zehn Jahren sehr aktiv. Dieses Engagement hat sich im Laufe der Zeit zunehmend professionalisiert. Ich erforsche, was die Civic-Tech-Initiativen in dieser Zeit gelernt haben: wie sie ihre Ziele erreichen, welche Herausforderungen es gab, wie ihre Ansätze und Lösungen dafür aussehen.

Du hast in Japan geforscht und Veranstaltungen mitorganisiert – was war besonders eindrucksvoll?

Besonders beeindruckt hat mich die Selbstverständlichkeit, mit der bei Veranstaltungen eine Simultanübersetzung angeboten wurde. Dies galt sowohl für den „Civic Tech Summit“ – eine eher zivilgesellschaftlich geprägte Veranstaltung – als auch für das Kick-off-Symposium des CTDI-Forschungsprojekts an der Universität Tokio. Für sämtliche Teilnehmenden standen an jedem Platz Kopfhörer und Sprachempfänger bereit; beide Veranstaltungen wurden vollständig simultan übersetzt – je nach Vortrag entweder vom Englischen ins Japanische oder umgekehrt.

Diese Praxis trug wesentlich zur Inklusivität der Veranstaltungen bei. Ich halte ein solches Angebot auch für unsere Veranstaltungen in Deutschland für erstrebenswert: Es würde nicht nur Personen mit geringen Englischkenntnissen die Teilhabe erleichtern, sondern ebenso internationalen Kolleg*innen den Zugang zu deutschsprachigen Inhalten ermöglichen.

Wie wird in Japan über Partizipation und digitale Mitgestaltung gesprochen – ähnlich wie bei uns oder ganz anders?

Meinem Eindruck nach wird Partizipation und digitale Mitgestaltung in der EU und in Deutschland stärker theoretisiert, während in Japan pragmatischer an diese Themen herangegangen wird.

Einige Präfekturen oder Stadtverwaltungen in Japan suchen aktiv den Kontakt zu lokalen Civic-Tech-Initiativen – andere hingegen verzichten vollständig auf eine Zusammenarbeit. Nach meinem Kenntnisstand existiert keine staatliche Förderung für zivilgesellschaftliche Civic-Tech-Projekte. Daher sind viele Initiativen gezwungen, alternative Finanzierungswege zu finden: Einige versuchen, sich über ein Start-up-Modell zu monetarisieren, andere bemühen sich, ihr bürgerschaftliches Engagement mit ihrer beruflichen Tätigkeit zu verknüpfen. Insgesamt zeigt sich ein starker Fokus darauf, Civic-Tech-Initiativen rasch gesellschaftlich zu verankern, um ihre langfristige Tragfähigkeit zu sichern.

Gibt es Beispiele für Civic-Tech-Projekte in Japan, die dich besonders beeindruckt oder inspiriert haben?

Da gibt es einige. Am bekanntesten ist wohl das SAFECAST-Projekt, das sich seit 2011 dem Messen von Radioaktivitätswerten in der Fukushima-Präfektur, später in ganz Japan und schließlich weltweit gewidmet hat. Gemeinsam mit Wissenschaftler:innen haben Anwohner:innen und Helfer:innen selbstgebaute Sensor-Geräte für Radioaktivitätsverschmutzung entwickelt und eine Online-Karte, welche die Messdaten zur Verfügung stellt. So erhielten die Menschen erste Informationen nach der Katastrophe aus einem großen Mess-Gebiet.

Ein anderes spannendes Projekt ist PIRIKA, ein soziales Netzwerk zum Thema „Müll sammeln“. Sauberkeit ist ein wichtiger Teil der japanischen Kultur. Viele Menschen in Japan tragen dazu bei, dass ihre Nachbarschaft sauber bleibt. Diese App arbeitet mit Foto-Funktionen und Belohnungen. Man fotografiert den Müll, den man in der Öffentlichkeit gefunden hat und entsorgt ihn. Für jedes Objekt gibt es Belohnungen, sogar Challenges zwischen den Nutzer:innen, z.B. wer am Tag den meisten Müll entsorgt hat.

Was hat dich während deines Aufenthalts besonders überrascht – fachlich und/oder kulturell?

Ich bin sehr dankbar für die umfassende Unterstützung, die ich während meines Aufenthalts von den Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen der Universität erfahren habe. Insbesondere bei administrativen Angelegenheiten – etwa im Zusammenhang mit Visum, Wohnungssuche oder der Organisation eines Kita-Platzes – stellte die Sprachbarriere eine gewisse Herausforderung dar. Ich bin und war beeindruckt von der großen Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft, die mir entgegengebracht wurde.

Diese Offenheit spiegelte sich auch auf fachlicher Ebene wider: Ich wurde eingeladen, mich an laufenden und neuen Projekten zu beteiligen und durfte sogar an der internen Selbstevaluation des Centers teilnehmen. Besonders gefreut und überrascht hat mich die Anrede als „Sensei“ – ein Ausdruck tiefen Respekts, der in Japan für Lehrende und Wissenschaftler:innen verwendet wird.

Siehst du Potenzial für mehr Kooperationen im Bereich Civic Tech – und was müsste dafür passieren?

Ich sehe in diesem Bereich großes Potenzial für wechselseitiges Lernen – auch über nationale Unterschiede hinweg. Engagierte Akteur:innen können voneinander profitieren, indem Erfahrungen, Strategien und Erkenntnisse ausgetauscht werden. Die Forschung zu Partizipation und gesellschaftlicher Transformation kann hier eine zentrale Rolle übernehmen – als Plattform für Wissenstransfer, Vernetzung und Kooperation.

Viele Civic-Tech-Initiativen arbeiten dezentral, häufig einfach im Homeoffice und benötigen öffentlich zugängliche Räume für Austauschformate wie Vorträge, Workshops oder Co-Working. Forschungsinstitute könnten hier eine wichtige Schnittstellenfunktion übernehmen: Sie bieten Infrastruktur, Sichtbarkeit und Legitimation – und profitieren im Gegenzug von unmittelbarem Zugang zum Feld und zur Praxis.

Im Sinne einer transdisziplinär ausgerichteten Forschung wäre es wünschenswert, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse in enger Zusammenarbeit mit Praxisakteur:innen entwickelt werden. Die Ergebnisse sollten beiden Seiten – Wissenschaft und Zivilgesellschaft – in geeigneter Form zugänglich gemacht werden. Solche komplexen Kooperationsformate bedürfen weiterer konzeptioneller und struktureller Entwicklung – hier liegt eine zentrale Aufgabe für die Zukunft.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dr. Andrea Hamm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe „Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Teilhabe“.

Das Interview führte Katharina Stefes.